Hartmut Krauss

Was ist kritisch-emanzipatorischer Humanismus? (1)

Seit dem Ende des Kalten Krieges und der dadurch bedingten Auflösung des bipolaren Blockdenkens ist ein vielgestaltiges und mehrdimensionales Wiederaufleben religiöser Bewegungen zu konstatieren. Dieser Vorgang zeigte sich sowohl in der kulturübergreifenden Ausbreitung fundamentalistischer Bewegungen und der Zunahme religiös motivierter (Gewalt-)Akteure (vgl. z. B. Riesebrodt 2000, Krauss 2003, Kippenberg 2008, Juergensmeyer 2009) als auch in der verstärkten Präsenz religiöser Kräfte in der medialen Öffentlichkeit. Von herausragender Bedeutung war hier zweifellos die Herausbildung des global wirksamen militanten Islamismus. Auch die abscheulichen Terroranschläge in Norwegen, begangen von einem psychopathischen Einzeltäter mit einem verworrenen rechtsradikalen Gedankenhintergrund, können den Tatbestand nicht verdrängen, dass islamisch motivierte Akteure im Rahmen der weltweiten religiösen Gewaltagenda absolut dominieren.
Generell ist festzustellen, dass die „Rückkehr der Religionen“ offenkundig nicht mit einer Zunahme von Massenspiritualität, Moralexpansion und andächtiger Gottesschau verbunden ist, sondern sich vielmehr in einem Anstieg religiös motivierter und legitimierter Gewaltausübung manifestiert. Insbesondere in Gestalt der Konfrontation der islamischen Herrschaftskultur mit der westlich-abendländisch generierten ‚Moderne’ ist ‚Religion’ zu einem relevanten Faktor der postrealsozialistischen Weltpolitik geworden (Röhrich 2004).

In Europa, wo kulturintern bestimmte Säkularisierungsprozesse innerhalb der schrumpfenden einheimischen Bevölkerungen ungebrochen fortwirken und durch die aufgedeckten Missbrauchsfälle insbesondere in christlichen Erziehungseinrichtungen noch verstärkt werden, wird der öffentliche Religionsdiskurs vor allem durch die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um den Islam überformt (vgl. hierzu Krauss 2010). Dabei gilt es festzuhalten, dass der Islam primär ein einwanderungsbedingter Kulturimport ist, der seinerseits einer phasenspezifischen Interessenlage des Großkapitals entsprang. Was nun die aktuelle islambezogene Debattenlage betrifft, so spielt der Umstand eine zentrale Rolle, dass die kulturhistorische und politisch-rechtliche Determination, die das Christentum durch den aufklärungsbestimmten Übergangsprozess von der vormodernen Feudalgesellschaft zur modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ertragen und verarbeiten musste, „unter der Hand“ auf den Islam als „ungebrochen“-vormoderne ‚Religion’ übertragen wird. Hinzu kommt, dass die für Deutschland typische „staatkirchenrechtliche“ Tradition einer unvollendeten Trennung von Religion und Staat/Politik und die damit gesetzte Privilegierung religiöser gegenüber nichtreligiösen Weltanschauungen sich immer wieder nachteilig auf eine wissenschaftlich-analytisch angemessene Religionsbetrachtung auswirkt. D. h.: Die aus herrschaftsstrukturellen Gründen in Deutschland erfolgte ‚restaurative’ Abwehr, Abschwächung und Zurückdrängung der religionskritischen Wucht der französischen Aufklärung erschwert bis heute eine öffentlichkeitswirksame kritische Reflexion des Religiösen und hat zur Etablierung eines umfassenden ideologischen Abwehrsystems geführt, dass sich gegenwärtig sehr vorteilhaft und begünstigend für die Protagonisten einer schleichenden Islamisierung auswirkt.
Als wesentliche Knotenpunkte dieses Abwehrsystems sind folgende, immer wieder vorgetragene Behauptungen/Postulate anzuführen:
1) Die Hervorkehrung des Religiösen als exklusive und unersetzbare Moralinstanz.
2) Die Hervorkehrung der spirituellen und kultischen (rituellen) Dimensionen des Religiösen.
3) Die Reduktion des Religiösen auf ‚Religiosität’ (als subjektivierte bzw. individuell verinnerlichte Form religiöser Weltanschauung).
4) Die Postulierung einer intersubjektiv-rational nicht überprüfbaren spezifisch-religiösen Erfahrungsebene; und insbesondere
5) Die Verleugnung oder Bagatellisierung eines weltlich-diesseitsbezogenen Herrschaftsstrebens religiöser Akteure in Form des Aufstellens von Gesetzestafeln in Verbindung mit dem Anspruch auf absolute (göttlich legitimierte) Deutungs- und Normierungsmacht.

Angesichts dieser Entwicklungstendenzen und gravierenden Herausforderungen ist es unabdingbar, die Konturen eines situationsgerechten kritisch-humanistischen Überzeugungsprofils zu schärfen bzw. neu zu justieren und darauf eine anforderungsadäquate Praxis zu gründen.

Der säkulare Humanismus als bestimmte Negation der religiösen Weltanschauung

In weltanschaulicher Hinsicht fungiert zunächst der säkulare Humanismus als bestimmte Negation der religiösen Weltanschauung.
Zentrales Merkmal der religiösen Weltanschauung ist deren Grundeigenschaft, dass sie ihre Aussagen, Werturteile und Normen in mehr oder minder strikter Abhängigkeit von der fiktionalen Setzung/Behauptung einer göttlichen (Ursprungs-)Instanz oberhalb bzw. außerhalb der menschlichen Daseinswirklichkeit generiert. Aus dieser Prämissenlage ergibt sich ein theozentrisches Weltbild, in dem die autonome Subjektqualität der Menschen als vernunftbegabte Selbstgestalter ihres eigenen Lebensprozesses geleugnet wird. Stattdessen wird Gott als allmächtiger Schöpfer, Gestalter und Richter des Weltgeschehens gesetzt, so dass den Menschen nur die Rolle eines abhängigen, fremdbestimmten und schicksalsergebenen Gottesknechts bleibt. Nicht der Mensch ist das Maß der Dinge, sondern alles dreht sich um Gott; Gott ist Anfang, Mitte und Endpunkt des Lebens, und auch des Alltags.
Nach dem menschheitsgeschichtlich einschneidenden neuzeitlichen Übergang vom (zunächst polytheistischen, später monotheistisch-offenbarungsreligiösen) Mythos zur wissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung, konstituierten sich dann im Rahmen mehrstufiger soziokultureller Umwälzungsprozesse (Renaissance, Reformation, Aufklärung) neue innerweltlich-rationale Bedeutungssysteme, die ihre Aussagen, Werte und Normen fortan ohne gottzentrierte ‚Rückbindung’ aus der Beschaffenheitsanalyse des Mensch-Weltzusammenhangs (Mensch-Gesellschaft-Natur) gewinnen. Fokussiert werden nunmehr die Würde des Menschen als zu freier moralischer Entscheidung fähiges Wesen sowie die Vernunft als menschliches Vermögen, das Schicksal von der eigenen Tätigkeit abhängig zu machen und sich selbst zu vervollkommnen. ‚Gott’ wird in diesem Kontext dezentriert (2) oder gänzlich abgeschafft: Das Land der Vernunft ist für Gott „eine Gegend, in der seine Existenz aufhört“ (Marx; MEW Ergänzungsband Erster Teil, S. 371).
Normativer Ausgangspunkt ist für Meslier wie für viele spätere Vertreter der Aufklärung die neuzeitliche Idee, dass alle Menschen von der Natur mit gleichen Rechten ausgestattet worden seien (3). Diese naturrechtliche Basis korrespondiert mit der humanistischen Grundannahme, dass die Menschen von sich aus, d. h. im Hinblick auf ihre gattungsmäßige Ausstattung, das Gute wollen und erreichen können.

Der kritisch-emanzipatorische Humanismus als Konkretisierung des säkularen Humanismus

Die säkular-humanistische Negation des theozentrischen Weltbildes ist für den kritisch-emanzipatorischen Standpunkt eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung für eine adäquate Positionierung gegenüber der religiösen Weltanschauung. Genau genommen führt nämlich der zwischen Theisten, Atheisten und Agnostikern ausgetragene abstrakte Streit über die Existenz Gottes und die Theodizee noch nicht an die eigentliche Wurzel der gesellschafts- und subjektwissenschaftlichen Grundproblematik des Religiösen. Diese besteht nicht einfach in der unbewiesenen/unbeweisbaren Behauptung der Existenz eines personalen Schöpfergottes, an die geglaubt werden soll. Das Grundproblem besteht vielmehr darin, dass aus dieser unbewiesenen Behauptung ein absolut verbindlicher Vorschriftenkatalog und eine darauf fußende autoritäre Ordnungs- und Sittenlehre abgeleitet werden. (Kombination aus unbewiesener Existenzbehauptung und dem Anspruch auf absolute Deutungs- und Normierungsherrschaft.) Damit erweist sich das Religiöse immer auch als Erzeugungs- und Stabilisierungsinstanz zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse, die zum einen abwertende Grenzziehungen zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Rechtgläubigen und Andersgläubigen, wahren Gläubigen und Zweifelnden etc. markiert und zum anderen vorgegebene und sich herausbildende „weltliche“ Abhängigkeits- und Unterwerfungsverhältnisse legitimiert. Insofern fungierten und fungieren die religiösen Glaubenssysteme immer auch als „ausgesprochene“ Herrschaftsideologien. So gilt die soziale (geburtsrechtlich-ständische) Ungleichheitsstruktur der feudalen Gesellschaft mit ihren spezifischen Ausbeutungs-, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen in der dominanten christlich-religiösen Sichtweise als durch göttlichen Willen vorherbestimmte und damit unveränderbare bzw. hinzunehmende Ordnung. In der dominanten Lesart des Islam werden unter Verweis auf den Koran, Sure 4/Vers 59 („O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben“) die irdischen Herrschaftsbeziehungen sakralisiert, d. h. als heiliges Gebot Allahs sanktioniert. Insofern der Imam Nachfolger des Propheten (Kalif) ist, agiert er gleichzeitig als unantastbarer religiöser und politischer Führer im Interesse der Erhaltung/Einhaltung der göttlichen Gesetzesordnung. In kulturell unterschiedlicher Ausprägung firmiert damit die theozentrisch-religiöse Weltanschauung als ‚ideologischer Kitt’ z. B. der christlich-abendländischen Feudalordnung sowie der orientalischen Despotie. Das Religiöse ist demnach als wesentliche Fundierungskomponente bzw. Bindeglied fest in die antagonistische „Vorgeschichte der Menschheit“ (Marx) eingelagert.
Die Einnahme einer grundsätzlich kritischen Position gegenüber dem Religiösen erfolgt in dieser Perspektive nicht aus der Haltung eines provokatorischen „Radau-Atheismus“ (Lust auf Gotteslästerung), sondern aus der Einsicht, dass „alle Emanzipation“ die „Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst“ ist (Marx 1988, MEW 1, S. 370). Dabei beinhaltet diese Zurückführung folgende Grunderkenntnis der Aufklärung: „Indem die Religion die Moral auf den Willen der Götter gründet, gründet sie diese in Wahrheit auf die Machtbefugnis einiger Spitzbuben, die es auf sich nehmen, im Namen dieser unsichtbaren Mächte zu sprechen ... So geht aus alledem hervor, wie wichtig es ist, die Sterblichen von ihren religiösen Vorurteilen zu heilen, die ihrerseits ihre politischen Vorurteile entstehen lassen“ (Du Marsais/Holbach, 1972, S. 28).
Verallgemeinernd zeigt sich der legitimationsideologische Charakter des Religiösen innerhalb der antagonistischen Zivilisation darin, dass die einzelnen religiösen (monotheistischen) Bedeutungssysteme, kristallisiert in ihren „heiligen Büchern“, für sämtliche zwischenmenschlichen Herrschaftsebenen Begründungs- und Rechtfertigungsmuster bereitstellen, so für Klassenherrschaftsbeziehungen, zwischenethnische Herrschaftsbeziehungen und zwischengeschlechtliche bzw. patriarchalische Herrschaftsbeziehungen. Dabei liefert der absolutistische Geltungsanspruch monotheistisch-offenbarungsreligiöser Bedeutungssysteme ein vorzügliches Legitimationsinstrument für totalitäre Herrschaftsgestaltung.

‚Emanzipation’ als Akt gesellschaftlicher und individueller Befreiung realisiert sich demnach in Gestalt der Überwindung zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse einschließlich der ihr anhaftenden (religiösen) Legitimationsideologien. Und so endet die Kritik der Religion mit der Lehre; „daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx 1981, MEW 1, S. 385).

Naturalismus und kritisch-emanzipatorischer Humanismus

Die Darwinsche Evolutionstheorie hat die offenbarungsreligiösen Schöpfungsmythen nachhaltig widerlegt und die Herausbildung der Gattung Mensch als Resultat langwieriger Prozesse der naturdialektischen Verarbeitung von Populations-Umwelt-Widersprüchen kenntlich gemacht. Demnach ist der Mensch zum einen Produkt der Natur, aber gleichzeitig deren nichtidentischer Teil: D. h: Einerseits selbst Naturmacht, tritt der Mensch der außermenschlichen Natur als intentionaler (bewusster) Umgestalter gegenüber und schafft eine sich beständig ändernde und reicher werdende künstlich-materielle Lebensumwelt einschließlich symbolischer Vergegenständlichungen (Sprache; Akkumulation von tradierbaren Wissenssystemen) und ideellen Bedeutungssystemen sowie sozialen Kommunikations- und Kooperationsstrukturen (Vergesellschaftungsformen), die freilich im Laufe der Geschichte einen antagonistisch-herrschaftlichen Charakter annehmen. Entscheidend ist nun aber, dass im Prozess der Herausbildung der menschlichen Existenzweise ein neues Spezifitätsniveau der Lebenstätigkeit erreicht wird, nämlich der Dominanzwechsel von der phylogenetischen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung (4). Das bedeutet: Das Soziale lässt sich nicht auf das Biologische reduzieren bzw. ‚kausalmechanisch’ daraus ableiten. Ebenso wenig kann die spezifisch-menschliche Form der psychischen Tätigkeit auf Neurophysiologie reduziert bzw. daraus deduziert werden.

Die funktionale Dialektik des Religiösen

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die religiöse Weltanschauung eine Doppelfunktion beinhaltet, die in folgender Verschränkung erscheint:
Zum einen präsentiert sie ein Bedeutungsangebot zur geistig-emotionalen Restabilisierung der Menschen angesichts vielfältiger und einschneidender Ohnmachts- und Widerspruchserfahrungen. Zum anderen verknüpft sie dieses Angebot mit präskriptiven Aussagen, Wertungen, Orientierungen und Normen im Interesse der Aufrechterhaltung bzw. religionsangepassteren Veränderung zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse. (Zum Beispiel: Islamisierung arabischer Autokratien) Der „Seufzer der bedrängten Natur“ wird so umgearbeitet in die Hinnahmebereitschaft bezüglich des „irdischen Jammertals“ und/oder in die Beteiligung am Herrschaftsstreben der eigenen Glaubensgemeinschaft bzw. national-religiösen „Volksgemeinschaft“.
Die religiösen Bedeutungen (Behauptungen, Wertungen, Normen, Regeln, Gebote, Verbote etc.) bilden demnach ein Ensemble ambivalenter Wirkelemente: Für das individuelle Subjekt vermitteln sie einerseits - im günstigsten Fall - zwar scheinbare Heilsgewissheit, Trost, vermeintliche Erlösung etc. Andererseits beinhalten sie zugleich aber (Selbst-)Unterwerfung, Entmündigung, geistige Unselbständigkeit sowie Befangenheit in repressiven Kontrollverhältnissen und einer selbstentfremdeten Lebensführung.

Das Religiöse ist somit beides zugleich: „Opium des Volkes“ (subjektive Form illusionär-regressiver Widerspruchsverarbeitung) und ideologisches Befestigungsmittel objektiv-tradierter Herrschaftsverhältnisse (5). Wer das irdische Jammertal überwinden will, kann deshalb nicht einfach auf die automatische Suspendierung bzw. Selbstauflösung des Religiösen im Zuge einer ökonomistisch missdeuteten Gesellschaftsumwälzung hoffen und die „Religion“ ansonsten „links liegen lassen“, sondern kommt gerade im Sinne eines praktisch-kritischen Humanismus nicht daran vorbei, die religiös-ideologische Rechtfertigung und normative Festschreibung bestehender Herrschaftsstrukturen systematisch aufzudecken und als deren wesentliche Stütze zurückzudrängen.

Indem das Religiöse immer auch als Verkörperung einer repressiv-antiemanzipatorischen Deutungs- und Normierungsmacht sowie als Fessel progressiver Subjektentwicklung in Erscheinung tritt, ist eine konsequente Kritik sozial ungerechter und herrschaftsförmiger Zustände mit einer grundsätzlich religionskritischen Position zu verknüpfen. Zielt der revolutionäre Humanismus im Anschluss an Marx und Engels ab „auf die Schaffung von Verhältnissen, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“(MEW 4, S. 482), so beinhaltet die religiös codierte Vergesellschaftung der Menschen das gerade Gegenteil, nämlich die Aufrechterhaltung von Verhältnissen, worin die entmündigende Kontrolle des Einzelnen die Bedingung ist für die möglichst perfekte (psychisch tiefenwirksame) Beherrschung aller.

Im Hinblick auf ihre subjektive (individual-biographische) Genese ist die Religion oder präziser: die religiöse Überzeugung nicht der spontan-‚gesetzmäßige‘ „Seufzer der bedrängten Kreatur“ (MEW 1, S. 378). Das bedeutet: Es besteht kein kausal-mechanischer Zusammenhang zwischen subjektiver Elendserfahrung und religiösem Glauben. Die individuelle Ausprägung eines religiösen Bewusstseins entspringt vielmehr einer komplexen subjekt-umwelt-dialektischen Bedingungskonstellation. So trifft in prämodern-traditionalen Gesellschaften oder Lebenswelten das Bedürfnis nach ‚Erlösung‘ aus einer zugleich als unerträglich und ausweglos erfahrenen Lebenssituation auf ein herrschaftskulturell übermächtiges religiöses Bedeutungssystem, ohne dass alternative (säkulare) Bedeutungsangebote zur Verfügung stehen oder subjektiv zugänglich sind. In dieser Perspektive ist es vor allem das ‚Hineingeboren-Werden‘ in sozialmoralisch geschlossene religiöse Milieus bzw. ‚Sozialisationsdiktaturen‘, die Menschen massenhaft ‚gläubig‘ macht und unmündig hält. Das wirkliche Elend ist hier zugleich ganz entscheidend religiös mitproduziertes Elend und nicht zuletzt auch deshalb ist „die Kritik der Religion ... die Voraussetzung aller Kritik“ (ebenda) (6).

Vor diesem Hintergrund lassen sich im Einzelnen folgende Grundwerte und Normen eines konsensfähigen kritisch-emanzipatorischen Humanismus anführen:

1) Die Geltung der Menschenrechte als universell gültige und unhintergehbare Basis des zwischenmenschlichen Zusammenlebens;

2) "Die Trennung von Religion einerseits und Staat, Recht, Bildungssystem etc. andererseits sowie die Brechung der absoluten Deutungs- und Normierungsmacht religiöser Instanzen: Primat des säkularen Rechts gegenüber religiöser Bindung;"

3) Das Recht des Individuums auf freie Entwicklung und selbstbestimmte Entfaltung seiner Persönlichkeit - gegen traditionelle Gruppen- und Familienzwänge;

4) Das Prinzip der demokratischen Staatsverfassung und der Ausbau der Volkssouveränität im Rahmen einer ‚freien’ Öffentlichkeit mit chancengleichen Partizipationsmöglichkeiten; sowie nicht zuletzt

5) Die Herstellung einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung als Voraussetzung für individuelles Wohlbefinden und solidarische Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern.

 

Literatur:

Du Marsais, César Chesneau; Baron d’ Holbach, Paul-Henri Dietrich: Essay über die Vorurteile oder Vom Einfluß der Meinungen auf die Sitten und das Glück der Menschen, eine Schrift, die die Verteidigung der Philosophie enthält. Leipzig 1972.

Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt am Main/New York 1983.

Juergensmeyer, Mark: Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida. Hamburg 2009.

Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Stuttgart/Ditzingen 1974/2004.

Kippenberg, Hans G.: Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung. München 2008.

Der Koran (herausgegeben von Kurt Rudolph und Ernst Werner), Leipzig 1984. 6. Auflage.

Krauss, Hartmut: Faschismus und Fundamentalismus. Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen ‚prämoderner’ Herrschaftskultur und kapitalistischer ‚Moderne’. Osnabrück 2003.

Krauss, Hartmut (Hrsg.): Das Testament des Abbé Meslier. Die Grundschrift der modernen Religionskritik. Osnabrück 2005.

Krauss, Hartmut (Hrsg.): Feindbild Islamkritik. Wenn die Grenzen zur Verzerrung und Diffamierung überschritten werden. Osnabrück 2010.

Marx, Karl: Der Kommunismus des „Rheinischen Beobachters“. In: MEW Band 4. Berlin 1980a, S. 191 - 203.

Marx, Karl, Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. MEW Band 4. Berlin 1980b, S. 459- 493.

Marx, Karl: Anmerkungen zur Doktordissertation. Anhang. In: MEW Ergänzungsband. Schriften bis 1844. Erster Teil. Berlin 1981, S. 371.

Marx, Karl: Zur Judenfrage. MEW Band 1. Berlin 1988, S. 347-377.

Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Band 1. Berlin 1988, S. 378-391.

Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München 2000.

Röhrich, Wilfried: Die Macht der Religionen. Glaubenskonflikte in der Weltpolitik. München 2004.

1. Referat für die Gründungskonferenz der „Gesellschaft für wissenschaftliche Aufklärung und Menschenrechte“ (GAM) am 13. August 2011 in Osnabrück.

2. Alles, „was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“ (Kant 1974/2004, S. 225).

3. Meslier (Krauss 2005, S. 244f.) bezieht sich explizit auf Seneca, den er wie folgt zitiert: „Wir sind alle von gleicher Geburt und gleicher Herkunft, es findet sich keiner, der vornehmer als die anderen wäre, außer dem, dessen Geist größer ist, der mehr der Tugend fähig ist und der Wissenschaften. Die Natur läßt uns alle verwandt und verschwägert geboren werden, wenn sie uns alle aus ein und derselben Natur erzeugt, und aus diesem Grund sind alle Namen wie König, Fürst, Monarch, Herrscher, Adliger, oder Untertan, Vasall, Diener, Sklave und Freigelassener Namen, die der Ehrgeiz hervorgebracht hat geboren aus Beschimpfung und Tyrannei“.

4. In der Übergangsphase, die diesem Dominanzwechsel zugrunde liegt, wirken „über den Selektionsmechanismus die Ansätze zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung selbst auf die genomische Information, also auf das ‚Erbgut’ zurück. So entwickelt sich die biologische Funktionsgrundlage der Lern- und Entwicklungsfähigkeit der Hominiden … immer mehr zur biologischen Funktionsgrundlage für die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Organisation der Lebensgewinnung. Der Mensch wird durch einen derartigen Kumulationsprozeß genomischer Information zum einzigen Lebewesen, das aufgrund seiner ‚artspezifischen’ biologischen Entwicklungspotenzen zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung fähig ist. (Holzkamp 1983, S. 179).

5. In der Rezeption der Marxschen Religionskritik besteht hier eine auffällige Asymmetrie, indem immer wieder fast ausschließlich nur Passagen aus der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zitiert werden, aber zum Beispiel die Kritik der „sozialen Prinzipien des Christentums“ ausgespart bleiben (Marx 1980a). Dort heißt es u. a.: „Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse und haben für die letztere nur den frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein. (…) Die sozialen Prinzipen des Christentums erklären alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker gegen die Unterdrückten entweder für gerechte Strafe der Erbsünde und sonstigen Sünden oder für Prüfungen, die der Herr über die Erlösten nach seiner unendlichen Weisheit verhängt.“

6. So ist die religiöse Entfremdung die Grundform der menschlichen Selbstentfremdung wie das religiöse Bewusstsein die Grundform des Ideologischen bzw. des „verkehrten“ Bewusstseins darstellt. Mit dem Übergang zur kapitalistischen Reproduktionsweise ist die ‚Gottesreligion‘ durch die ‚Marktreligion‘ und dem ihr anhaftenden Warenfetischismus weniger abgelöst als vielmehr ergänzt worden. Die amerikanische Herrschaftskultur ist in weiten Teilen das aufgeschlagene Buch dieser spätmodernen Verquickung von Gottesreligion und Marktreligion. Saudi-Arabien und die übrigen Golfstaaten verkörpern wiederum eine islamische Variante dieser herrschaftskulturellen Bastardisierung.

 

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Hartmut Krauss

Orientierungsgrundlagen einer kritisch-emanzipatorischen Ethik.
Ein ausgewählter Überblick
(1)

 

Einleitung
I. Moral, Ethik und Wertorientierungen als integrale Teilaspekte übergeordneter Bedeutungssysteme

II. Zur gesellschaftlichen Funktion und Wirkungsweise der Moral

III. Zentrale Differenzierungsebenen ethischer Konzepte und Wertorientierungen
III. 1. Trennlinien zwischen religiösen, säkularen und religionskritischen Ethikkonzepten und Wertorientierungen
III. 2. Trennlinien zwischen pessimistischen, optimistischen und realistischen Menschenbildern als Grundlagen ethischer Konzepte und Wertorientierungen
III. 2.1. Das Konzept der christlichen Erbsündenlehre
III. 2.2. Pessimistische Menschenbilder ohne Gottesbezug
III. 3. Rousseaus positives Menschenbild und Kants Konzept der menschlichen Vernunft-Natur
III. 4. Konturen eines wissenschaftlich-realistischen Menschenbildes

IV. Zur Konstitution modern-emanzipatorischer Wertorientierungen und ihrer kapitalismusspezifischen Verformung
IV. 1. Die Wertorientierungen der Aufklärung als Negation der religiös-ständischen Vormoderne
IV. 2. Die westlich-kapitalistische Moderne als formale Anerkennung und reale Negation des Wertehorizonts der Aufklärung
Literaturverzeichnis

 

Einleitung
Im Zuge des Übergangs von der bipolaren Weltordnung des Ost-West-Gegensatzes (Kapitalismus vs. Realsozialismus) zur multipolaren Weltunordnung der „postrealsozialistischen Weltgesellschaft“ kam es zur nachhaltigen Erschütterung bis dato grundlegender geistig-moralischer und weltanschaulich-politischer Orientierungs- und Überzeugungssysteme. Im Rahmen der aktuellen Finanz- und Schuldenkrisen des posttriumphalistischen Kapitalismus wurde diese Desorientierung noch einmal nachhaltig verstärkt.(2)
Im Zentrum dieses Umbruchs steht vor allem die Herausbildung komplexer Verflechtungen zwischen nunmehr globalisierter kapitalistischer Ökonomie und nichtwestlichen Herrschaftskulturen, die keine dem neuzeitlich-europäischen Aufklärungsprozess vergleichbare endogene Entwicklung mit entsprechend durchsetzungsfähigen Wertorientierungen und Institutionalisierungen durchlaufen haben. Entsprechend fehlt dort die Dialektik von kapitalistischer Modernität und kultureller Moderne (Ensemble posttraditionaler Wertorientierungen und Normen).
Gleichzeitig ist eine beschleunigte aufklärungsfeindliche Negation der Wertegrundlagen der kulturellen Moderne seitens der westlichen Herrschaftselite festzustellen, die im Gewand des Kulturrelativismus und Postmodernismus als den neu-reaktionären Leitideologien globaler Profitorientierung daherkommt.
Zudem ist ein eklatanter Gegensatz zwischen dem Rückgang religiöser Traditionen innerhalb der schrumpfenden europäischen Gesellschaften einerseits und der ungebrochenen bzw. zum Teil fundamentalistisch verstärkten religiösen Bindung innerhalb der bevölkerungsexpansiven nichtwestlichen Herrschaftskulturen zu verzeichnen. Dieser Antagonismus zeigt sich auch im Rahmen der zunehmend postdemokratisch demolierten europäischen Gesellschaften, und zwar zwischen der vorherrschenden säkular-liberalen Grundorientierung der einheimischen Bevölkerungsmehrheit einerseits und der vormodern-religiösen Ausrichtung zahlreicher Immigranten insbesondere aus islamischen Ländern andererseits - ein normativer Gegensatz, der massenmedial auf vielfältige Weise ideologisch-semantisch fehlinterpretiert, verfälscht und entstellt wird.

In neuer Dynamik prallen damit drei widersprechende Formationen von Wertorientierungen aufeinander:
1. ein profitlogischer Utilitarismus als Ausdruck der instrumentellen Vernunft,
2. eine Reaktivierung vormodern-religiöser Moralsysteme, und
3. eine Suchbewegung nach tragfähigen Konzepten einer kritisch-humanistischen bzw. emanzipatorischen Vernunft.

Vor diesem Hintergrund ist es nun im Interesse der Rekonstruktion einer gesellschaftspolitischen Fortschrittsbewegung, die den aktuellen Entwicklungsanforderungen gerecht werden will, dringend erforderlich, zunächst die Grundlagen und Inhalte einer herrschaftskritisch-emanzipatorischen Ethik neu freizulegen und zu justieren, um sodann - darauf gestützt - ein politisches Programm auszuarbeiten.

Im ersten Schritt geht es zunächst um die begriffliche Bestimmung und Verortung von Moral, Ethik und Wertorientierungen, um zweitens dann die Genese und gesellschaftliche Funktion moralischer Regelsysteme zu umreißen. Auf dieser Grundlage sind dann drittens zentrale Differenzierungsebenen ethischer Konzepte und Wertorientierungen herauszuheben. Viertens werden in diesem Kontext einige Aspekte philosophiegeschichtlich bedeutsamer Ethikkonzepte angesprochen, bevor dann fünftens einige humanistisch-emanzipatorische „Grundwerte“ behandelt werden.

 

I. Moral, Ethik und Wertorientierungen als integrale Teilaspekte übergeordneter Bedeutungssysteme
Versteht man unter „Moral“ die Gesamtheit von Wertorientierungen/Wertmaßstäben und damit korrespondierenden Regeln, die das Handeln von Individuen in einer Gemeinschaft steuern, ordnen und einschränken sollen, so ist dabei immer zugleich zu berücksichtigen, dass dieses „Moralsystem“ den unselbständigen Teilbereich eines übergeordneten gesellschaftlichen Bedeutungssystems bildet. Im Näheren setzt sich dieses überindividuelle Bedeutungssystem aus folgenden funktional wechselwirkenden Teilsystemen zusammen:
A. Dem (kognitiven) System der Wirklichkeitserklärung und -interpretation bestehend aus Aussagen, Behauptungen, Erklärungen, Begründungen etc.
B. Den Systemen der logischen (wahr oder falsch), moralischen (gut oder schlecht), rechtlichen (gesetzeskonform oder gesetzwidrig) und ästhetischen (schön oder nicht schön) Bewertung der Wirklichkeit sowie der menschlichen Handlungen in ihr bestehend aus Werten/Wertorientierungen und daraus abgeleiteten Werturteilen.
C. Dem System der direkten Handlungsnormierung bestehend aus Handlungsaufforderungen, Geboten, Verboten etc.

Darüber hinaus sind folgende grundlegenden Aspekte zu berücksichtigen:
1. Die dialektische Pluralisierung der Bedeutungssysteme:
In positionell differenzierten Gesellschaften mit unterschiedlichen Interessen an Machterhalt und Machtveränderung koexistieren unterschiedliche, nunmehr ideologische Bedeutungssysteme mit inhaltlich unterschiedlichen bzw. divergenten Teilsystemen der Wirklichkeitserklärung, Wirklichkeitsbewertung und Handlungsnormierung.
2. Die subjektive Moralverinnerlichung und Widerspruchsverarbeitung:
Moralische Regeln sollen vom Individuum nicht einfach äußerlich befolgt, sondern verinnerlicht bzw. zur inneren Stimme des Gewissens werden. „Wir sollen das, was wir sollen, auch wollen“ (Schmid Noerr 2006, S. 8). Dabei ist die subjektive Moralverinnerlichung in dialektisch pluralisierten Gesellschaften in der einen oder anderen Form und Intensität immer auch mit der Notwendigkeit der Verarbeitung von moralischen Orientierungs- und Bewertungswidersprüchen konfrontiert.

„Ethik“ lässt sich nun bestimmen als theoretisch-wissenschaftliche bzw. philosophische Reflexion der Inhalte, der Begründung/Legitimation, Genese, gesellschaftlichen Entwicklung und subjektiven Übernahme moralischer Regelsysteme. Dabei wird Ethik auch als „praktische Philosophie“ bezeichnet, da sie sich mit den Grundlagen zwischenmenschlichen Handelns befasst - im Unterschied zur „theoretischen Philosophie“, die sich in Gestalt von Logik und Erkenntnistheorie mit dem menschlichen Denken oder in Gestalt der Ontologie mit dem physikalischen, biologischen und gesellschaftlich-menschlichen Sein auseinandersetzt.
Eine andere Definition, die im Grunde die partielle Nichtübereinstimmung zwischen elementaren moralischen Regeln und individuellen Wertorientierungen in modernen Gesellschaften widerspiegelt, vermittelt Horster (2004, S. 20f.): „Ethik umfasst in meiner Terminologie den Bereich, in dem die Frage gestellt wird, was für das jeweilige persönliche Leben wichtig ist. (…) Mit Moral bezeichne ich auf der anderen Seite die Regeln, die zwischen mindestens zwei Personen gelten, um die Interaktionen möglichst konfliktfrei gestalten zu können. (…) Die Verbindlichkeit in der Moral und die Wahlfreiheit in der Ethik sind kennzeichnend für die funktional differenzierte Gesellschaft.“

 

II. Zur gesellschaftlichen Funktion und Wirkungsweise der Moral
Genauer betrachtet ist Moral zu bestimmen als im historisch-gesellschaftlichen Prozeß der menschlicher Daseinsgestaltung und -vorsorge erarbeitetes System von expliziten (sprachlich vergegenständlichten) Wertmaßstäben/Bewertungskriterieren und damit funktional verbundenen Handlungsnormen (Gebote, Verbote, Ideale etc.), das dem gesamtgesellschaftlichen Zweck der aktiven Steuerung der zwischenmenschlichen Interaktionen dient. Das Wesen der Moral besteht demnach in ihrer regulierenden, normierenden und kontrollierenden Vergesellschaftungsfunktion; d. h. in ihrer Fähigkeit zur Erzeugung von Übereinstimmung zwischen individuellen Tätigkeiten/Handlungen/Verhaltensweisen und den strukturellen Reproduktionserfordernissen des Kollektivs bzw. der sozialen Ganzheit. Diese funktionale Notwendigkeit leitet sich ab aus dem relativen Freiheitsgrad der Mensch-Welt-Beziehung bzw. aus der mit dem menschlichen Tätigkeitsniveau gegebenen Fähigkeit, zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten auszuwählen. So kann man beispielsweise Anweisungen befolgen oder nicht befolgen, Befehle ausführen oder nicht ausführen, Mitmenschen helfen oder nicht helfen, nur auf den eigenen Vorteil bedacht sein oder nach kooperativer Verbindung streben etc.
‚Moral’ ist folglich die funktionale Reflexion des wechselseitigen Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft und gleichzeitig eine Grundform der reproduktionsnotwendigen Überwindung der zwischen ihnen bestehenden Widersprüche. D. h. Sie dient insbesondere dem Abbau von Spannungen zwischen Individuum und Sozium und fungiert als Regulator der sozialen Subjekt-Umwelt-Dialektik. Ihre Aufgabe besteht darin, zum einen durch normative Einschränkung/Ausschließung von Handlungsoptionen (vermittels verbindlicher Regeln) zu gewährleisten, dass interaktive Erwartungen wechselseitig erfüllt werden(3)und zum anderen durch wertende Empfehlungen („Das ist gut, das ist schlecht“) subjektives Handeln in Entscheidungssituationen anzuleiten.

So liegt ein zentrales kulturübergreifendes Axiom moralischen Handelns, das sich sowohl bei den alten Ägyptern, Indern, Chinesen sowie im Neuen Testament finden lässt(4), in der verallgemeinerbaren zwischenmenschlichen Wechselseitigkeit, in der Individualinteresse und Allgemeininteresse zusammenfallen: Behandle andere Menschen so, wie du selbst auch behandelt werden möchtest! (Goldene Regel)

Auf Seiten der vergesellschafteten Individuen liegen die subjektiven „Angelpunkte“ der Übersetzung des Sozialen ins Individuelle (und damit zentrale Prämissen der widerspruchslösenden Funktion der Moral) in deren Streben nach sozialer Orientierung und Integration als relevante Teilaspekte der menschlichen Bedürfnisstruktur (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1978, S. 26ff.). Die Strukturkomponenten der Moral (Werte, Gebote/Verbote, Normen etc.) sind demnach für das individuelle Subjekt grundlegende multifunktionale Orientierungsmittel seiner sozialen Tätigkeit: Sie definieren sozial erwünschte Vorgehensweisen bei der Verfolgung individueller Tätigkeitsziele, reduzieren Handlungsunsicherheit und ermöglichen gleichzeitig eine relativ sichere Prognose bezüglich der zu erwartenden (Re-)Aktionen der Kooperations- und Kommunikationspartner im Falle moralkonformen Verhaltens. Die Wirkungsmacht der Moral basiert folglich auf ihrer doppelseitig-komplementären Funktionalität: Einerseits im Interesse der gesellschaftlichen Systemreproduktion anforderungsgerechtes Verhalten zu erzeugen (vermittels normativ-wertender Selektion „erwünschter“ Handlungen) und andererseits als subjektiv relevantes „Werkzeug“ sozialer Orientierung und bedürfnisgerechter Eingliederung zu fungieren.
Eng verbunden mit dieser subjekt-objekt-dialektischen Doppelfunktion der Moral und zugleich Teilaspekt ihrer Wirkungsmacht ist ihre Sanktionskraft. Die jeweils konkret-gesellschaftlich wirksamen moralischen Regulative definieren nicht nur sozial erwünschtes Verhalten und diskriminieren nonkonforme Handlungen, sondern implizieren auch Verfahrensregeln für den Fall unbotmäßiger Aktivitäten (z. B. Ächtung, Stigmatisierung, Verlust der „Ehre“, Ausschluss aus der Gemeinschaft etc.), wobei wiederum die elementare soziale und psychische Bedürftigkeit des individuellen Subjekts (Angst vor Bindungsverlust und Exklusion) instrumentalisiert und ausgenutzt wird. In der ethnographischen Literatur wird von Fällen berichtet, nach denen Menschen in archaischen Gesellschaften infolge der mit einem moralischen Regelverstoß (Tabuverletzung) einhergehenden Antizipation von sozialer Sanktion elend zugrunde gehen (vgl. exemplarisch Sybkowjez 1978, S. 73). Auch heute noch stellen „Ehrenmorde“ und diesbezügliche antizipatorische Psychopathologien bis hin zu Selbstmorden in vormodern-patriarchalisch und religiös determinierten Milieus ein relativ weit verbreitetes Phänomen dar (Oberwittler/Kasselt 2011; Cöster 2009).

Von herausragender Bedeutung nicht nur für die ökonomischen und politischen Gesellschaftsstrukturen, sondern auch für die ideellen Bedeutungssysteme und darin eingeschlossen die moralischen Wertorientierungen und Normen sind die folgenden menschheitsgeschichtlichen Zäsuren:
1. Der Übergang von urgesellschaftlichen Verhältnissen zur Herausbildung von zwischenmenschlichen Herrschaftsverhältnissen auf der Basis von Privateigentum, Klassenbildung, staatlichen Repressionsapparaten, patriarchalischen Strukturen und religiösen Legitimationsideologien, sowie
2. Der Übergang von vormodernen, auf persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen basierenden Herrschaftsverhältnissen zur modernen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform. (Vgl. hierzu ausführlich: Krauss 2003 und 2003 a und b.)
Grundsätzlich gilt für alle Systeme zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse, dass sich die Partialinteressen der Herrschenden als allgemeinmenschliche Interessen ausgeben und damit einen prinzipiell ideologischen Charakter annehmen(5). Dieser Umstand trifft auch auf die gesellschaftlichen Moralsysteme zu.
Kennzeichnend für die vormodernen Herrschaftsverhältnisse ist eine religiös aufgeladene und überhöhte sowie klerikal überwachte Moral, die fest in die autoritär-hierarchische Sozialordnung eingefügt ist und - da gottgewollt - als unhinterfragbar inszeniert ist (autoritäre Setzung einer Identität von Religiösem und Sozialem). Im Rahmen dieser religiös-moralisch legitimierten und normierten Ordnung ist das Lebensschicksal des Einzelnen durch geburtsrechtlich-ständische Vorgaben und starre Rollenmuster sowie Ausschluss von Entscheidungsspielräumen weitestgehend unwiderruflich vorgezeichnet. „Persönliche Abhängigkeit“ konkretisiert sich in diesem sozialen Kontext primär als detaillierte Festlegung und Beschränkung der individuellen Lebensmöglichkeiten, Entwicklungsziele und Verhaltensstandards durch die standesspezifischen Pflichten, Normen, Regeln etc. z. B. bezüglich des Zugangs zu Berufen, der Gewährung oder Vorenthaltung von Rechten und Bildungsmöglichkeiten, des Heiratsverhaltens, des Lebensstils, der Kleiderordnung u. s. w.

In dem Maße, wie die fest gefügte und religiös legitimierte ständisch-feudale Herrschaftsordnung a) durch die Ausbreitung von Ware-Geld-Verhältnissen sowie b) durch die naturwissenschaftliche Widerlegung des theozentrischen Weltbildes brüchig wird und sich - unterstützt von politischen Revolutionen - allmählich kapitalistische Vergesellschaftungsstrukturen herausbilden, erodiert auch die traditionell-autoritäre Standesmoral der vormodernen Verhältnisse. Mit der Herausbildung des „doppelt freien Lohnarbeiters“ und der damit ermöglichten Dialektik von Kapital und Lohnarbeit als gesamtgesellschaftlich strukturprägendes Verhältnis, werden auch die moralischen und rechtlichen Regelsysteme umgewälzt, und es entsteht eine Moral-, Werte- und Rechtsordnung, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist:
A. Die Dezentrierung des Religiösen als Quelle einer allgemeinverbindlichen Moralordnung.
B. Der Dominanzwechsel von der religiösen zur kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Bewusstseins- und Tätigkeitsnormierung.
C. Die widersprüchliche Koexistenz von (formaler) Freiheit und (realer) Unfreiheit, (formaler) Gleichheit und (realer) Ungleichheit; postulierter Solidarität und realer Konkurrenz etc. (kapitalistische Selbstnegation der kulturellen Moderne und Auseinanderklaffen von Werte-Anspruch und Wirklichkeit.)
D. Die Herausbildung einer eigentümlichen Ambivalenz der modernen/posttradionalen Vergesellschaftung: Es entstehen einerseits größere Freiheiten und Entscheidungsspielräume, aber andererseits auch größere Unsicherheiten/Risiken in der individuellen Tätigkeitsentwicklung/Lebensführung.
Mit der „modernen“ Erweiterung von individuellen Wahlfreiheiten und Entscheidungsmöglichkeiten einerseits und der Zunahme von Risiken andererseits sowie dem Allgemeinverbindlichkeitsverlust vormodern-religiöser Moral, aber auch in Anbetracht verallgemeinerter Konkurrenzverhältnisse und der wachsenden Pluralisierung von Lebensführungsmodellen und „frei“ wählbaren Tätigkeitszielen steigt dann die Intransparenz zwischenmenschlicher Verhaltenserwartungen und damit die „doppelte Kontingenz“ (Parsons): „Niemand weiß vom anderen, was dieser aus der Vielzahl von Möglichkeiten wählen und in Handeln umsetzen wird“ (Horster 2004, S. 37). Aus dieser doppelten Kontingenz und dem quantitativ und qualitativ verstärkten „Chaos der sich wechselseitig durchkreuzenden Einzelwillen“(6)ergibt sich dann folgende widersprüchliche Problemkonstellation: Einerseits wächst die Notwendigkeit der Generierung und Implementierung verbindlicher moralischer Prinzipien und Normen im Interesse der (Wieder-)Herstellung des sozialen Zusammenhalts in der enttraditionalisierten (von religiös-dogmatischen Absolutheitsansprüchen gereinigten) Gesellschaft, andererseits führt die kapitalismustypische Pluralisierung der Bedeutungssysteme sowie die rasante Herausbildung eines intentionalen Chaos zur verstärkten moralisch-normativen Diffusion und zur Herausbildung werte- und normdivergenter Lager: Konservative vs. Postmaterialisten; Hedonisten vs. Traditionalisten; säkulare Humanisten vs. religiöse Fundamentalisten; utilitaristische Individualisten vs. gesinnungsethische Kommunitaristen; Universalisten vs. Kulturrelativisten etc.

 

III. Zentrale Differenzierungsebenen ethischer Konzepte und Wertorientierungen
Wie bereits angesprochen sind ethische Konzeptionen und Morallehren genauer betrachtet unselbständige Teilgebiete übergreifender weltanschaulicher Bedeutungssysteme und korrespondieren (mehr oder minder explizit) mit zugrunde liegenden Gesellschafts- und Menschenbildern. Dabei lassen sich folgende Differenzierungsebenen als besonders hervorstechend abstrahieren:
1. Religiöse oder säkulare (weltlich-immanente) Morallehren und Ethikkonzepte.
2. Morallehren und Ethikkonzepte im Rahmen eines pessimistischen, optimistischen oder realistischen Menschenbildes.
3. Morallehren und Ethikkonzepte im Rahmen der Verteidigung (Ontologisierung) oder der Kritik zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich dann weitere Differenzierungen auch innerhalb der umrissenen Grundpositionen zum Beispiel hinsichtlich des Ursprungs bzw. der Quelle der Moral (zum Beispiel Gott, die Natur, die Vernunft, zwischenmenschliche Übereinkunft, menschliche Empfindungs- und Willensdisposition, Tiefenstruktur der Sprache etc.), den moralischen Gütern (zum Beispiel Einheit mit Gott, Glück, Lust, Freiheit, Tugend, Weisheit etc.) oder den grundlegenden Wertbegriffen und deren Verhältnis zueinander (zum Beispiel Gottesfurcht, Gehorsam, Pflichterfüllung, Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit etc.).

III. 1. Trennlinien zwischen religiösen, säkularen und religionskritischen Ethikkonzepten und Wertorientierungen
Als grundlegend andersartige Varianten sind vom heutigen Entwicklungsstand aus betrachtet transzendent-religiöse (vormoderne) und immanent-rationale (moderne) Bedeutungssysteme zu unterscheiden:
(1) Transzendent-religiöse Bedeutungssysteme gewinnen ihre Aussagen, Werturteile und Normen in Abhängigkeit von der fiktionalen Setzung/Behauptung einer göttlichen (Ursprungs-)Instanz oberhalb bzw. außerhalb der menschlichen Daseinswirklichkeit.
(2) Innerweltlich-rationale Bedeutungssysteme gewinnen ihre Aussagen, Werte und Normen ohne gottzentrierte ‚Rückbindung’ aus der interessen- und standortspezifischen Beschaffenheitsanalyse des Mensch-Weltzusammenhangs (Mensch-Gesellschaft-Natur).

Kennzeichnend für religiöse (monotheistische) Bedeutungssysteme sind (a) die unbewiesene/unbeweisbare Behauptung der Existenz eines Schöpfergottes; (b) die Behauptung einer Offenbarung des Willens dieser Gottheit sowie (c) der Drang nach weltlicher (diesseitiger) Normierung der Gesellschaft und der Individuen gemäß dieser unbewiesenen/unbeweisbaren Willensoffenbarung.
Religiöse Bedeutungssysteme weisen damit grundsätzlich einen spezifisch-ideologischen Charakter auf, indem sie a) eine irrationale bzw. rational nicht beweis- und überprüfbare Ausgangsprämisse zur fundamentalen Basis erheben und b) aus dieser irrationalen Prämisse bzw. unbewiesenen Basisbehauptung zusätzlich einen absolut verbindlichen Vorschriftenkatalog ableiten und praktisch durchsetzen wollen (Streben nach allgemeingültiger Deutungshoheit und umfassender weltlicher Normierungsmacht).

Von philosophischer, gesellschaftstheoretischer und subjektwissenschaftlich herausragender Bedeutung ist nun, dass im Prozess der Herausbildung der antagonistischen Zivilisation (Verknüpfung von klassengesellschaftlichen, zwischengeschlechtlichen und interethnischen Herrschaftsstrukturen) religiöse Bedeutungssysteme den Charakter von herrschaftssichernden Legitimationsideologien annehmen und dementsprechende Moralprinzipien und Normenkonzepte im Stile von strikten Gehorsamslehren entwickeln. Damit tritt neben das Herrschaftsprinzip der unmittelbaren Repression und gewaltgestützten Mehrwertabpressung das Prinzip der geistig-moralischen Führung durch monopolisierte Deutungs- und Normierungsmacht als eigenständiger Funktionsbereich. So fungiert die alle Lebensbereiche durchdringende „christliche Religion“ in mehrfacher Hinsicht als allein und absolut gültige geistig-kulturelle Bestimmungsinstanz, und zwar in ihrer Eigenschaft als mythologische Glaubenslehre (hochkulturelle Theologie und massenkulturelle Heiligenverehrung), universalistische Legitimationsideologie (Setzung und Sakralisierung der Ständegesellschaft als gottgewollte Ordnung) und alltagsmoralisch tiefenwirksames Kontroll- und Normierungssystem (Beichte; Ehe als Sakrament; pfarrherrliche Überwachung der Gemeindemitglieder). In dieser umfassenden Bedeutungsgestalt lieferte sie „ein allgemeingültiges Zeichenmaterial, in dessen Termini die Mitglieder der feudalen Gesellschaft sich und ihre Welt wiedererkannten sowie ihre Begründung und Erklärung fanden“ (Gurjewitsch 1982, S. 13). In ihrer institutionalisierten Form als klerikaler Grundeigentümer und „Papstkirche“ erscheint sie dann darüber hinaus zugleich als ökonomischer und politischer Herrschaftsträger. Aufgrund eben dieser „Dreieinigkeit“ von ideologischer, politischer und ökonomischer Verfügungsgewalt bildet die christliche Religion/katholische Kirche die herausragende Instanz der mittelalterlichen Feudalgesellschaft.

Mit der neuzeitlichen Ausformung und Durchsetzung heliozentrischer Erkenntnisse (Kopernikus, Keppler, Galilei) und den naturwissenschaftlich-methodischen Einsichten und Prinzipien der Physik Isaac Newtons wurde dann aber der Glaube an die Existenz eines teleologischen Schöpfergottes sowie an das gesamte religiöse Behauptungssystem einschließlich seiner Morallehren nachhaltig erschüttert und die religiöse Deutungs- und Normierungsmacht untergraben. Nunmehr galten traditionelle Autoritäten als genauso kritikwürdig und rechenschaftspflichtig wie andere Menschen auch. Am Ende des Mittelalters hatte die katholische Kirche in Europa ihre Vorherrschaft über das geistig-moralische Leben eingebüßt. Erkennbar wurde nun, dass der individuell-gesellschaftliche Mensch nicht auf die Existenz eines normativ fremdbestimmten Gottesknechts festgelegt war, sondern zum selbstverantwortlichen Subjekt seines eigenen Lebensprozesses werden konnte.

Vor dem Hintergrund dieses sozial- und kulturhistorischen Umbruchs lassen sich dann auch die geistig-moralischen Grundeffekte der Aufklärung, d. h. des Übergang von einer irrational-gottzentrierten zu einer rational-wissenszentrierten Weltanschauung näher umreißen:
1) Überwindung des theozentrischen Weltbildes hin zu einem Weltverständnis ohne theologische Vermittlung.
2) Übergang vom Glauben zum Wissen.
3) Reintegration des Menschen in die Natur. Ersetzung des mittelalterlichen „Gottesdieners“ durch den „humanistischen“ Menschen als vernunftbegabter und mitleidsfähiger nichtidentischer Teil der Natur.
4) Der Mensch als vernunftbegabter und wahrheitsorientierter Herr über sein Schicksal, der formbar und vervollkommnungsfähig ist und irdisches Glück anstrebt.
5) Theoretisch-konzeptionelle und schließlich auch praktisch-revolutionäre Herauslösung des Menschen aus den Hierarchien und Zwängen der feudalen Ständegesellschaft. (Naturrechtliche Freiheit als Ausgangspunkt, woraus dann eine neue, selbst hergestellte, sachlich-kapitallogische Hierarchie am Maßstab des gesellschaftlichen Nutzens des Einzelnen resultiert.)

Im Kontext dieser europäischen Überwindung der Vorherrschaft religiöser Bedeutungssysteme entstehen dann auch relevante Moraltheorien und Ethikkonzepte ohne Bezug auf Gott, so bereits im Rahmen der englischen Aufklärung bei Hobbes, Locke, Hume und den Vertretern der Moral-Sense-Theorie oder bei Kant. „Die Instanz, auf die hin Moralität bezogen war, wechselte dabei von Gott über den allmächtigen Staat auf das Wohl der Gesellschaft, ja der Menschheit insgesamt“ (Schmid-Noerr 2006, S. 84). Auffällig und typisch ist dabei, wie zum Beispiel bei Hume und Kant, eine eigentümliche deistische Zwiespältigkeit: Man zerstört zwar einerseits die Gewissheit Gottes durch philosophisch-rationalen Skeptizismus; klammert sich jedoch andererseits an dessen Möglichkeit - zum Beispiel als Garant des Sittengesetzes (Kant)(7).
Erst im Rahmen der Religionskritik des französischen Aufklärungsmaterialismus wird dann nicht nur eine Ethik ohne Gott entworfen, sondern zugleich die herrschaftsstabilisierende und subjektdeformierende Rolle des Religiösen herausgearbeitet. So reklamiert Jean Meslier, der eigentliche umfassende Begründer der modernen Religionskritik, dass die Befreiung von den Irrtümern der Religion nicht nur eine geistige, sondern auch eine sittliche Befreiung der Menschen sein wird(8): Erst wenn die Unterdrückten sich von der religiösen Moral befreit haben, werden sie erkennen, dass sie das Recht und die Möglichkeit haben, für ihr irdisches Glück zu kämpfen. „Es ist ein Irrtum zu behaupten, daß die vollkommene Tugend in der Nächstenliebe(9)und dem Trachten nach Leiden und Schmerzen bestünde ... , da es immer ein Irrtum, ja sogar Wahnsinn ist, Leiden und Schmerz zu lieben und nach ihnen zu trachten, um durch dieses Mittel Güter und Belohnungen zu erhalten, die nur eingebildet sind“ (Meslier, zit. n. Krauss 2005, S. 234f.).Ebenso verstößt nach Meslier das christliche Gebot der Feindesliebe nachhaltig gegen die menschliche Vernunft und die elementare Moral, „... denn es ist ganz offensichtlich ein Naturrecht und dem gesunden Menschenverstand, der Gerechtigkeit und der natürlichen Gleichheit gemäß, sein Leben und seine Güter gegen jene zu verteidigen, die sie uns zu Unrecht wegnehmen wollen“ (ebenda S. 238f.).
Du Marsais und Holbach entlarven in ihrem „Essay über die Vorurteile“ (herausgegeben 1769) in sehr klaren Worten den eigentlich skandalösen Grundsachverhalt des (entprivatisierten) religiösen Irrationalismus: „Indem die Religion die Moral auf den Willen der Götter gründet, gründet sie diese in Wahrheit auf die Machtbefugnis einiger Spitzbuben, die es auf sich nehmen, im Namen dieser unsichtbaren Mächte zu sprechen ... So geht aus alledem hervor, wie wichtig es ist, die Sterblichen von ihren religiösen Vorurteilen zu heilen, die ihrerseits ihre politischen Vorurteile entstehen lassen“ (1972, S. 28).
Auch sind für Meslier die Religionen nicht nur herrschaftlichen Zwecken dienende menschliche Erfindungen. Indem sie die menschliche Gattung in sich widersprechende und bekämpfende Konfessionen einteilen, die um das Wahrheitsmonopol und die einzig gottgefällige Lebensweise konkurrieren (aktuell etwa im terroristisch-kriegerischen Kampf zwischen Sunniten, Schiiten und Alawiten im Irak, in Pakistan und Syrien), sind sie selbst aktive Quelle von Zwietracht, blutiger Fehde und kriegerischer Auseinandersetzung.
„In der Tat sieht man keine blutigeren und grausameren Kriege als solche, die aus einem religiösen Motiv oder Vorwand begonnen werden“ (Meslier, zit. n. Krauss 2005, S. 111).
In diesem Zusammenhang äußert sich Meslier auch an einer Stelle über den Stifter des Islam:
„Schließlich ... hat auch der so hoch angesehene falsche Prophet Mohammed durch ebendenselben Kunstgriff, durch Täuschung und Betrug, seine Gesetze und seine Religion im ganzen Orient durchgesetzt, indem er die Leute glauben machte, jene seien ihm durch den Engel Gabriel vom Himmel geschickt worden“ (ebenda S. 91).

 

III. 2. Trennlinien zwischen pessimistischen, optimistischen und realistischen Menschenbildern als Grundlagen ethischer Konzepte und Wertorientierungen
Denkt man die aufklärungsmaterialistische Religionskritik konsequent zu Ende, dann liegt ein schwerwiegender, aber heilbarer „Sündenfall“ der Menschheitsgeschichte ganz wesentlich auch in der Hervorbringung von religiös-irrationalen Mythologien und Weltbildern mit absolutem Gültigkeitsanspruch und legitimationsideologischen Funktionen, an denen trotz des umfassenden Wissensfortschritts festgehalten wird. Allerdings sind die Menschen nicht für alle Ewigkeit dazu verdammt, in religiös-irrationalem Aberglauben zu verharren. Vielmehr besteht die Möglichkeit zur Selbstbefreiung und Katharsis durch Aufklärung, Bildung und Veränderung geistig-moralischer Kräfteverhältnisse. Du Marsais und Holbach (1972, S. 28) drücken das mit noch ungetrübtem Fortschrittsoptimismus so aus: „Die Menschen sind nur deshalb so unglücklich, so lasterhaft, so geteilt in ihren Interessen, so unbedacht in ihren Leidenschaften, so feige ihren religiösen und politischen Tyrannen unterworfen, so der Wahrheit entfremdet, so feindlich gesinnt allem Guten, das man ihnen erweisen will, weil man ihnen von Kindheit an die Binde vor die Augen gelegt hat, die abzulegen ihnen die Tyrannei stets verwehrt“ ( Du Marsais und Holbach 1972, S. 28).
Auch wer darum bemüht ist, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen und einen Ausweg aus der von traditionellen Autoritäten befohlenen Unmündigkeit zu finden (Kant), stößt zunächst einmal auf eine undurchsichtige objektive Gemengelage von widerstreitender Ideenformationen, Erklärungsmustern und moralischen Leitkonzepten. Einen wesentlichen Teilbereich bilden hierbei die folgenden divergierenden Menschenbilder:

 

III. 2.1. Das Konzept der christlichen Erbsündenlehre
Grundsätzlich ist die christliche Weltanschauung durch folgenden elementaren Widerspruch gekennzeichnet: Einerseits wird der Mensch als Nachbildung des Schöpfergottes angesehen und gegenüber der anorganischen und organischen Natur als „Krone der Schöpfung“ herausgehoben. Auf der anderen Seite aber ist der Mensch der Sklave Gottes. Nur durch Selbstverleugnung, ja Selbsterniedrigung und Unterdrückung irdisch-kreatürlicher Leidenschaften wird der individuelle Gläubige im Jenseits erlöst; „da die Erlösung und Vollendung des Menschen erst in der anderen Welt möglich ist, ist eine freie Entwicklung der Persönlichkeit ausgeschlossen. Die Willensfreiheit, die vom Christentum verkündet wird, verwandelt sich in das Gebot, alles zu meiden, was der Rettung der Seele schaden kann“ (Gurjewitsch 1982, S. 336) und bleibt damit vollständig von der Gottesunterwürfigkeit abhängig. Grundlegend für das christliche Weltanschauungssystem ist ein heilsgeschichtlicher Entwicklungskontext mit den Stadien: Schöpfung - Zustand der Unschuld - Sündenfall - Verharren in der Sünde - Gericht Gottes - Verdammnis oder Erlösung. Dabei ist das kirchlich-religiöse Geschichtsbild streng deterministisch: Alles Geschehen entspringt den Plänen Gottes; für den Zufall ist in der göttlichen Vorherbestimmung kein Platz.

In diesem Bedeutungskontext spielt nun die Konzeption der Erbsünde eine wesentliche Rolle, die auf den „Kirchenvater“ Augustinus von Hippo (354-430) zurückgeht. Nach dessen Auffassung stellt die gesamte Menschheit eine „einzige Sündenmasse“ dar, die auf die „Urschuld“ des Stammvaters Adam zurückgeht und von diesem von Generation zu Generation, von Mensch zu Mensch weitervererbt wird. In dieser Sicht, die später auch Martin Luther und Johannes Calvin übernehmen, wird die Erbsünde durch den Fortpflanzungsprozess übertragen und gehört als irreversibles Merkmal zur gattungsmäßigen Wesensausstattung der Menschen. Aus dieser a priori „erbsündigen“ Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit können sich die Menschen aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Ihre Erlösung ist absolut abhängig von der göttlichen Gnade.
Aus dieser theologisch-spekulativen Setzung der „Erbsünde“ resultieren nun folgende fundamental negativen Wertorientierungen:
A. Die Abwertung der Arbeit als gattungsspezifisches Vermögen der Menschen: Der „erbsündige Mensch“ ist zur Arbeit verdammt - in dieser biblischen Bewertung der Arbeit als Strafe ist ein ethisches Grundelement des mittelalterlichen Christentums zu sehen. Im theologischen Diskurs wird der tätig-mühseligen Unterwerfung der Natur die Funktion zuerkannt, das mit der Verstoßung aus dem Paradies gegebene quälende Sündenbewusstsein zu kompensieren. Zudem wird die Arbeit als erzieherisch notwendiges Mittel der Selbstdisziplinierung anerkannt. Sie dient der Zügelung der Fleischeslust und beugt dem Rückfall in die Lasterhaftigkeit vor. Gegenüber der Kontemplation, die den Menschen der Heiligkeit näher bringt, gilt die Arbeit als niederrangig. Allerdings wird die Arbeit der Laboratores - nach der Tätigkeit der Oratores (Geistlichkeit) und der Bellatores (Rittertum) - als nützlich für den Erhalt des gesellschaftlichen Organismus angesehen. Dem weltlichen Adel, der nach Marx in „Heldenfaulheit“ schwelgt und Krieg, ritterliche Tätigkeiten sowie hedonistischen Müßiggang als „edle“ Aktivitäten ansieht, gilt die materiell-gegenständliche Sorge um das tägliche Brot als Sache des „gemeinen Volkes“, d. h. als „unwürdige“ Beschäftigung.
B. Die repressive Leibfeindlichkeit der christlichen Sündenlehre: Die Kirche überwacht argwöhnisch - insbesondere vermittels der Beichte - das Geschlechtsleben der Laien. Penibel reglementiert sind beispielsweise jene Zeiten, in den der Geschlechtsverkehr untersagt ist: vor der Beichte, an kirchlichen Feiertagen, während des Fastens, zu Zeiten der Buße etc. Sexuelle Betätigung ist nur „funktional“ gestattet zur Erzeugung der Nachkommenschaft. D. h. die mittelalterlich-christliche Sexualmoral geht von der strikten Trennung von „Lust“ und „Fortpflanzung“ aus. Auch noch für den sozialrevolutionären Theologen Thomas Müntzer ist die Vorstellung einer „Auserwähltheit in utero“ kennzeichnend. Danach muss der Zeugungsvorgang ohne „niedere Lüste“ bzw. ohne „libido“ vollzogen werden, damit sich die Nachkommen nicht auf zeitliche, fleischliche Güter, sondern auf Gott und das ewige Seelenheil hin ausrichten werden. Nur wenn es dem Menschen gelingt, „die ‚viehische Lust’ im Zeugungsakt weitgehenst auszublenden und stattdessen von der ‚...Furcht Gottes und dem Geist der Weisheit...’ bestimmt zu sein, kann der Mensch gewiß sein, eine ‚auserwählte Nachkommenschaft’ gezeugt zu haben“ (Fauth 1989, S. 44). In Müntzers anthropologischem Schichtenmodell, das er von Paulus und Johannes Tauler übernommen hat, sind dem Menschen eine tierische, eine vernünftige und eine himmlische Schicht immanent. Als Sitz der menschlichen Sündhaftigkeit ist in erster Linie die „tierische Schicht“ anzusehen. Diesen „tierischen Menschen“ gilt es durch Askese „auszurotten“.
Da die „Fleischeslust“ und die mit ihr verbundene Begehrlichkeit als Seelenzustand gedeutet wird, der den Menschen von Gott entferne, wird die Sexualität in den unterschiedlichen christlich-religiösen Diskursen , wenn schon nicht gänzlich ausschaltbar, so doch unter schärfste Kontrolle gestellt und mit dem Kainsmal des Bösen, des Sündhaften und des Gefährlichen versehen, d. h. systematisch ins moralische Zwielicht gerückt.
C. Frauenfeindlichkeit als Effekt der christlichen Sündenlehre. In der rigorosen Leibfeindschaft findet auch der Frauenhass des patriarchalischen Mittelalters eine tiefere Wurzel. Das Weib, „der mindere Teil des Menschenpaares“, das auf die Schlange hereinfiel, wird mit den Augen der christlich-asketischen (geistlichen) Männergemeinschaft als Inbegriff der fleischlichen Versuchung angesehen. Die biblisch-theologisch belegte Minderwertigkeit des Weiblichen („Eva-Mythos“) wird prinzipiell mit potentieller Lasterhaftigkeit assoziiert. Deshalb geraten insbesondere Frauen in den - durch aufgestaute Triebenergien aufgeheizten - Verdacht, „Dienerinnen des Teufels“ zu sein(10).

 

III. 2.2. Pessimistische Menschenbilder ohne Gottesbezug
In den posttraditionalen Philosophien und Ethikkonzeptionen der Neuzeit, die sich nicht mehr auf einen allmächtigen Schöpfergott als Ursprungsinstanz und Quelle der Moral berufen, findet nunmehr eine „Schlacht um die postreligiöse Wesensbestimmung des Menschen“ statt. Das gilt sowohl für die Philosophien der englischen und französischen Aufklärung als auch für den deutschen Idealismus, Schopenhauer, Nietzsche, Feuerbach sowie Marx und Engels.

Unter dem Eindruck der kriegerischen Auseinandersetzungen im Rahmen der „glorreichen englischen Revolution“, in denen sich die Raubzüge der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ (Marx) sowie Bürgerkrieg, Hinrichtung des Königs und Militärdiktatur widerspiegeln, ersetzt Thomas Hobbes (1588-1679) die religiöse (gottgewollte) Legitimation zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse durch seine spekulativ-naturalistische Konzeption des Herrschaftsvertrages. Danach befinden sich die Individuen in ihrem ursprünglichen Naturzustand in einem aggressiv-feindseligen Verhältnis zueinander (homo homini lupus), der sich als „Krieg aller gegen alle“ kennzeichnen lässt. Um diesen Urzustand betrügerischer Entgegensetzung und gewalttätiger Feindschaft zu überwinden, sind die Menschen dazu gezwungen, die Macht einer über ihnen stehenden Zentralgewalt zu übertragen, die über absolute Befehlsgewalt verfügen muss, um Gesetze zu erlassen und Gesetzesbrecher hart zu bestrafen. Dieser Zentralgewalt darf sich niemand widersetzen. Nur so lässt sich Freiheit und Sicherheit herstellen und maximieren. Diese absolute Zentralgewalt kann ein Einzelner oder eine Gruppe ausüben, aber sie ist nie von Gott oder einer althergebrachten höheren Autorität verliehen, sondern von den Gesellschaftsmitgliedern, und zwar zum Wohle aller. Hobbes’ pessimistisches Bild vom menschlichen Dasein kommt sehr deutlich im berühmten Schlusssatz des „Leviathan“, Hobbes’ berühmtesten Buch, zum Ausdruck: „(…) und, was das allerschlimmste ist, es herrscht ständig Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes; und das Leben des Menschen ist einsam, armselig, widerwärtig, vertiert (nicht besser als das eines Tieres, H. K.) und kurz.“ (zit. n. Magee 1998, S. 80). Schmid Noerr (2006, S. 73) verweist auf die paradoxe Konstellation des Hobbesschen Konzepts: Moral wird auf einen fiktiven Vertrag gegründet, den die Bürger frei vereinbart haben und der ihnen gleichzeitig aber das Recht abspricht, die vereinbarten Normen je in Frage zu stellen. Offenkundig wird hier die absolute Unterwerfung unter die Willkürmacht Gottes auf den Staat als „absolute Instanz“ übertragen.

Im Zuge des weiteren Übergangsprozesses von der feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und in Anbetracht der relativen Befriedung der sozialen Verhältnisse im postrevolutionären England büßt Hobbes’ autoritäre Lösung der zwischenmenschlichen Interessengegensätze und Glaubenskonflikte zunehmend an Überzeugungskraft ein. So legt John Locke (1632-1704) eine Konzeption des Gesellschaftsvertrages dar, in deren Kontext die ursprünglichen Vertragspartner keine kriegerischen Urwaldbestien mehr sind, sondern freie Individuen, die als Staatsbürger ihre Individualrechte behalten und bei tyrannischem Missbrauch der Regierungstätigkeit ein Recht zum Sturz der Regierung bzw. zur Umwälzung des Staates innehaben. Obwohl Locke einerseits im Rahmen der puritanischen Weltanschauung verbleibt, legt er gleichzeitig mit seiner empiristischen Erkenntnistheorie einen wesentlichen Grundstein für eine rational-analytische Weltauffassung. Dabei wird der Gebrauch der instrumentelle Rationalität als angewandter Gottesdienst, d. h. als Einsicht in Gottes Schöpfung gedeutet. Im Endeffekt wird damit gegenüber der starken Jenseitsorientierung der katholischen Moralkonzeptionen des Mittelalters nunmehr das gewöhnliche irdisch-menschliche Leben aufgewertet und mit Ansprüchen an einen gelingenden bzw. „glücklichen“ Verlauf versehen.
Was Lockes Philosophie trotz seines Verhaftetbleibens im puritanischen Denkhorizont (und damit auch der augustinischen Sündenlehre(11)insgesamt auszeichnet, ist die Synthese der Kernmerkmale der modernen, europäisch-neuzeitlichen Denkweise mit ihren starken Auswirkungen auf Wissenschaft, Politik und das Erziehungs- und Bildungswesen:
1. Autonomer Vernunftgebrauch und Autoritätskritik: Folge nicht unbefragt und gedankenlos (ungeprüft) irgendwelchen überkommenen Autoritäten, Traditionen und Konventionen. Denke selbst nach.
2. Ersetzung des blinden Glaubens durch die Orientierung an Tatsachen. Richte dein Verhalten an der Wirklichkeit und nicht am frommen Wunschdenken aus.
3. Methodische Ausrichtung der Wissenschaft an Beobachtung und Experiment.
4. Optimistische Grundeinstellung bezüglich der subjektiven (Fähigkeits-)Entwicklung.
5. Negation der absolutistischen (despotischen) Regierungsform. Bindung des Regierungszwecks an die Erhaltung der Rechte und Freiheiten der Gesellschaftsmitglieder. (Vgl. Magee 1998, S. 108.).

In dem Maße aber, wie Gott als Garantieinstanz des Guten nachhaltig erschüttert ist, rücken nunmehr zwei moralgenetische Aspekte in den Vordergrund:
1) Die Ausrichtung auf den Wert des Nutzens als positive Folge von Handlungen (Utilitarismus) und
2) Die Setzung einer internen, der menschlichen Gattung und dem Individuum innewohnenden Anlage zum moralisch Guten, d. h. die Behauptung eines subjektinternen. moralischen Sinns (moral sense) für richtig (gut) und falsch (böse) als Basis der Moral.
Danach sind moralische Empfindungen wie Wertschätzung des Wohlbefindens des Anderen, Abneigung gegenüber dem Laster, Mitleid, Einfühlungsvermögen etc. für die Vertreter der britischen „Moral-Sense-Theorie“ (Shaftesbury, Hutcheson u.a.) natürliche Grundlagen der menschlichen Subjektivität, während die von Hobbes akzentuierten „wölfischen“ Eigenschaften als „unnatürlich“ zurückgewiesen werden.
Dem widerspricht nun radikal Bernard Mandeville (ca. 1670-1733). In dessen Bienenfabel werden gerade die privaten Laster, eigennützigen Interessen und egoistischen Verhaltensweisen - und nicht etwa das natürliche Wohlwollen - als Triebkräfte und Garanten des Allgemeinwohls herausgestellt. Damit bediente Mandeville objektiv zwei wesentliche zeitgenössische Interessen: Zum einen nutzte er indirekt den Theologen, die sich angesichts der aufgezeigten weit verbreiteten Lasterhaftigkeit in ihrer Erbsündenlehre bestätigt sahen und nun vermeintlich viel „Nahrung“ für ihr Postulat erhielten, die verworfene Menschennatur mit kirchlichen Praktiken und Exerzitien im Zaum zu halten. Zum anderen spielte er direkt der Apologetik des frühkapitalistischen Profitstrebens und dem Besitzindividualismus in die Hände, indem er Egoismus und Eigennutz (immer auch auf Kosten anderer) mir einer neuen moralischen Eigenwürde ausstattete.

Die negativistische Hypostasierung des Menschen als erbsündige Kreatur (christliche Theologie), von Natur aus böses und aggressives Tier (Hobbes) und lasterhafter Egoist (Mandeville) findet im Fortgang der geistesgeschichtlich widergespiegelten Dialektik von kultureller Moderne und kapitalistischer Entwicklung innovativ-irrationalistische Ausgestaltungen bei Schopenhauer und Nietzsche(12)und mündet dann über die Autoren der „Zerstörung der Vernunft“ (Lukács) in die offene Bejahung und Bestätigung des Faschismus. Entscheidend ist bei all diesen Konzepten die mehr oder minder enge Verbindung (a) des negativistisch-pessimistischen Menschenbildes mit (b) der Apologetik einer autoritär-hierarchischen Herrschaftsordnung und (c) der Entmutigung und Verdammung eines progressiv-emanzipatorischen Veränderungswillens. Von diesen Positionen aus erscheint dann humanistische Moral als äußere Repression der „eigentlichen“, negativistisch gedeuteten „Natur des Menschen“(vgl. exemplarisch die Ausführungen zu Nietzsche und Spengler in Krauss 2003).

 

III. 3. Rousseaus positives Menschenbild und Kants Konzept der menschlichen Vernunft-Natur
Die pessimistisch-negativistischen Menschenbilder finden vordergründig eine explizite Negation im Werk von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Im direkten Gegensatz zu Hobbes bestimmt Rousseau den Menschen im Naturzustand als guten bzw. „edlen Wilden“. Dabei sieht er ihn als ungeselligen „vereinzelten Einzelnen“, der von Natur aus gut ist, ausgestattet mit der Selbstliebe, aber auch mit der Gabe der Rücksichtnahme auf andere sowie des zwischenmenschlichen Mitgefühls. Was den von Natur aus guten Menschen dann aber verderbe, sei die äußere, ihm aufgezwungene Vergemeinschaftung und die daraus dann hervorgehende Zivilisation. Die Sozialisation des Individuums in der (zivilisierten) Gesellschaft basiere darauf, dass das Kind bzw. der heranwachsende Mensch dazu angehalten werde, seine natürlichen Instinkte zu zügeln und zu zerstören und in die künstlichen Kategorien des begrifflichen Denkens einzupassen. Das Ergebnis ist Rousseau zufolge eine Entfremdung vom eigenen „Ich“ bzw. „Selbst“; mithin Falschheit und Heuchelei. Nach dieser - im Grunde antisozialen - Auffassung verdirbt und zerstört die Zivilisation folglich die wahren Werte statt sie - wie immer behauptet - zu schaffen und zu verbreiten.
Da der Mensch nicht mehr in den Naturzustand zurückkehren kann, gibt es nur einen Ausweg: die Zivilisierung der Zivilisation. Und zwar dadurch, dass nunmehr die natürlichen Gefühle und Instinkte entfesselt und zum freien Ausdruck zugelassen werden. Der Weg ist hier folglich ein Dominanzwechsel vom Verstand zum Gefühl. Im öffentlichen wie im privaten Leben müsse alles den Erfordernissen des Gefühls und der natürlichen Instinkte und nicht der Vernunft untergeordnet werden. Um den Einzelnen vom Joch der Zivilisation zu befreien, schlägt Rousseau eine Erziehungsreform vor: Überwindung der üblichen Unterdrückung/Disziplinierung der natürlichen kindlichen Instinkte; Praxis und Erfahrung statt Bücherwissen und verbale Unterweisung; Sympathie und Liebe als Lernanreize.

Im Rahmen seiner politischen Philosophie definiert Rousseau die menschliche Gesellschaft als kollektives Wesen mit einem eigenen Willen, der sich von der Gesamtheit der Einzelwillen unterscheidet und fordert vom Bürger - hier in Analogie zu Hobbes -, sich diesem „Gemeinwillen“ zu unterwerfen. Basiert dieses Demokratiekonzept auf dem verselbständigten Gemeinwillen, so basiert das Modell der liberalen Demokratie nach Locke auf dem Prinzip des Schutzes und des Erhalts der individuellen (bürgerlichen) Freiheit. „Bei Rousseau wird dem Individuum das Recht abgesprochen, vom Gemeinwillen abzuweichen, so dass dieser Begriff von Demokratie sich mit dem Fehlen jeglicher persönlicher Freiheit verträgt“ (Magee 1998, S. 129). Der „Gemeinwille“ lässt sich somit auch - vermittels manipulierter „Mehrheiten“ - für antidemokratische Zwecke instrumentalisieren, indem sowohl der Faschismus und Stalinismus, aber auch der neototalitäre Abstimmungsislamismus individuelle Grund- und Menschenrechte negieren. (Je bildungsferner, rückständiger und in traditionalistisch-voraufklärerischen Ideen und Normen eine Bevölkerung befangen ist, desto mehr gleicht sie den Kälbern, die ihre Metzger selber wählen).
Es ist wohl die Linie Rousseau-Robbespierre (und damit der Irrtum des Zusammenfallens der Ausübung von Souveränität mit moralischer Tugendhaftigkeit) und nicht der atheistische Aufklärungsmaterialismus, der dem Terreur der Französischen Revolution zugrunde liegt.

Andererseits verstärkt Rousseaus Beharren auf der natürlichen Güte des Menschen und die damit verknüpfte Hervorhebung der moralischen Empfindungsfähigkeit die von der englischen Moral-Sense-Theorie angestoßene Entwicklung hin zu einer Subjektivierung der Moral als innere Stimme der Natur (Innenwendung der Suche nach dem Guten), die sich sowohl gegen die traditionell-religiösen Morallehren als auch gegen die neuen utilitaristisch-frühkapitalistischen Konzepte richtet. Während Rousseau in dieser Hinsicht einseitig die emotional-intuitiven Regungen der inneren Natur betont, akzentuiert dann Kant demgegenüber die Vernunft-Natur des praktischen Denkens als innere Ressource: „Das vernünftig handelnde Wesen richtet sich (…) nach Prinzipien oder Gründen, deren Allgemeingültigkeit eingesehen worden ist“ (Taylor 1996, S. 632). Dabei fallen für Kant menschliche Vernunft-Natur, Handeln nach rationalen Gründen und Freiheit zusammen. Im Unterschied zu den anderen (weithin instinktgesteuerten) Naturwesen folgen die menschlichen Vernunftwesen selbst aufgestellten Gesetzen; und damit (und nicht etwa durch die Fiktion des auf Gunsterwerbung abzielenden Gottesglaubens) stehen sie unvergleichlich viel höher. Eben diese Vernunft-Natur, die es ermöglicht, dem „Sittengesetz“ aus eingesehenen Gründen in freier Entscheidung zu folgen, macht die „Würde des Menschen“ aus.
Dieser Gedanke der vernünftigen (kritisch-rationalen) Selbstbestimmung, der sich weigert, (a) das unmittelbar Gegebene/„Positive“ kognitiv unkontrolliert als Richtlinie bzw. als Denk- und Verhaltensvorschrift zu akzeptieren oder (b) blind den unmittelbaren Impulsen der Trieb-Natur zu folgen, hat die moderne Denktradition gewaltig beeinflusst und die über Hegel, Feuerbach und Marx/Engels laufende emanzipatorische Strömung entscheidend angeregt.

 

III. 4. Konturen eines wissenschaftlich-realistischen Menschenbildes
Kants Philosophie zielt insgesamt betrachtet auf eine progressiv-emanzipatorische Höherentwicklung der Menschheit in Form der gesellschaftlichen und individuellen Verallgemeinerung und Realisierung der Vernunft bzw. der Vernunftfähigkeit. Dabei fallen für ihn Verallgemeinerung und Realisierung vernünftiger Prinzipien und Moralisierung bzw. bewusste Sittlichkeit zusammen. In diesem Sinne bezeichnet er in seinem letzten Werk („Streit der Fakultäten“) die Französische Revolution als „eine(r ) Begebenheit …, welche (die) moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweiset“ (Kant, Akademieausgabe VII, S. 85).

Im Unterschied zu den spekulativ-essentialistischen Menschenbildern, die den Menschen entweder „von Natur aus böse“ oder „von Natur aus gut“ bestimmen, finden sich bereits bei Kant relevante Hinweise auf die dialektische Konstitution des Menschen (betrachtet als Gattung und als Individuum). Zum einen akzentuiert und reflektiert Kant sehr klar die moralische Widersprüchlichkeit des Subjekts. So koexistiert für ihn die ursprüngliche Anlage hin zum Guten im Menschen mit der gleichfalls angelegten Möglichkeit „einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen“, die „der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben“ (Kant 2004, S. 65). Da der letztgenannte Hang unvertilgbar ist, bedarf es der unablässigen Gegenwirkung, um ihn zu zügeln. Insofern aber eben auch eine Anlage hin zum Guten im Menschen vorliegt, kann er begründet hoffen, durch eigene Kraftanstrengung ein guter Mensch zu werden. Demzufolge muss sich die moralische Bildung des Menschen auf die „Umwandlung der Denkungsart“ sowie die „Gründung eines Charakters“ konzentrieren, um eine Transformation der Subjektivität hin zum Bindungsprimat des moralischen Gesetzes zu erzielen.
Eine weitere wesentliche dialektische Bestimmung rückt Kant mit dem Widerspruch (Antagonism) der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen ins Blickfeld: Einerseits die menschliche Neigung, sich zu vergesellschaften; andererseits der Hang, sich zu vereinzeln bzw. zu isolieren: „Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzelnen (isoliren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist“ (Kant, Akademieausgabe VIII a, S. 20f.).

Die moderne Wissenschaftsentwicklung hat nun gezeigt, dass eine essentialistische Anthropologie, die den Menschen eine a priori feststehende moralische Beschaffenheitsqualität zuschreibt, inadäquat ist. Der Mensch ist weder ein unentrinnbarer Erbsünder noch eine lüstern umherschweifende asoziale Bestie oder ein edler Altruist. (Ganz und gar ist der Mensch von Geburt an auch kein Monotheist oder Angehöriger einer anderen Weltanschauungsgemeinschaft: Kein Mensch wird als Jude, Christ, Moslem etc. geboren - was heute zu betonen wieder aktuell ist!) Die wissenschaftlich-realistische Definition besagt vielmehr, dass der Mensch von Natur aus weder gut noch böse ist, sondern gemäß objektiven (umweltspezifischen) Einflüssen und Vorgaben formbar, wobei er über Anlagen sowohl zum „Guten“ als auch zum „Bösen“ verfügt.
Was den Menschen als Gattung und Individuum auszeichnet bzw. grundlegend bestimmt, ist die evolutionär entstandene flexibel- modifizierbare Fähigkeit zu zielgerichteter Realitäts- und Selbstgestaltung gegenüber einer Umwelt, die sich in einem permanenten historischen Wandel mit jeweils unterschiedlichen etappenspezifischen Tempi befindet und immer wieder neue Anforderungen setzt. „Nichtfestgelegtheit“ bzw. „Modifikabilität“ - auf der Grundlage neuronaler Systeminnovationen - ist demgemäß ein zentrales Merkmal der menschlichen Natur. Diese Bestimmung schließt ein, dass der Mensch ein moralisch kontingentes Wesen ist. Sehr drastisch hat das der Psychologe Galperin ausgedrückt: „Kein einziges Tier außer dem Menschen kann zum Menschen werden, der Mensch kann jedoch Mitglied einer jeden Gesellschaft werden und innerhalb seiner physischen Möglichkeiten zu jedem Tier und sogar schlimmer als jedes Tier. In dieser Freiheit der Entwicklung besteht auch die biologische Besonderheit der Art ‚Mensch’“ (Galperin 1980, S. 214).
Zum anderen ist auf den grundsätzlich „offenen“ Charakter der menschlichen Lebensgestaltung zu verweisen: Gesellschaftliche Praxis lebendiger, raum-, zeit- und sozialspezifisch positionierter Menschen ist immer intentionale Tätigkeit in einem limitierten Aktionsfeld; wobei die Richtung der im begrenzten Möglichkeitsraum gewählten Handlungsoption einschließlich der gewählten moralischen Leitorientierungen wiederum vom Verarbeitungsresultat der subjektiv erfahrenen Lebenswidersprüche abhängt. Subjektive Widerspruchsverarbeitung in einem konkret-historisch bestimmten Möglichkeitsraum kann demnach als das adäquate materialistisch-dialektische Bewegungs- und Reflexionsprinzip des historischen Prozesses herausgehoben werden. Die Hoffnung darauf, dass sich im Prozess der Auseinandersetzung mit Negativem die vergesellschafteten Menschen zum humanen Subjekt formen könnten, ist deshalb ebensowenig als „Utopie“ zu verdammen, wie andererseits das Galperinsche Schreckensbild nicht von der Hand zu weisen ist, das ja bereits in Gestalt der faschistischen Barbarei, aber auch im stalinistischen Gulag zu grausamer Wirklichkeit geworden ist und heute nahezu täglich im islamisch begründeten Tugendterror aufscheint.

 

IV. Zur Konstitution modern-emanzipatorischer Wertorientierungen und ihrer kapitalismusspezifischen Verformung

 

IV. 1. Die Wertorientierungen der Aufklärung als Negation der religiös-ständischen Vormoderne
Während sowohl die monotheistischen Glaubenslehren als auch die spekulativ-irrationalistischen (Lebens-)Philosophien der Neuzeit mit ihren pessimistischen Menschenbildern eine autoritär-hierarchische Herrschaftsordnung nahe legen und legitimieren (oder doch zumindest als „schicksalhaft“ ontologisieren), entstehen insbesondere im Rahmen der französischen Aufklärung radikal-kritische Gegenkonzepte mit gegensätzlichen Wertbegriffen und Leitorientierungen. Die Grundlage für diesen Umbruch bildet der Wirkungszusammenhang zwischen folgenden Faktoren:
1. Objektive ökonomisch-soziale Veränderungsprozesse in Gestalt der Ausbreitung von Ware-Geld-Beziehungen, der Urbanisierung, neuer Entdeckungen (Heliozentrismus) sowie neuer Erfindungen wie zum Beispiel dem Buchdruck. Dadurch wird sowohl die religiöse Weltdeutungsmacht als auch die feudale Ständeordnung erschüttert.
2. Die Herausbildung von neuen sozialen Gegensätzen zwischen den alten Feudalmächten (Adel), dem Städtebürgertum, den feudalabhängigen Bauern und den plebejischen Schichten.
3. Die offensiv-kämpferische Negation der überkommenen christlich-religiösen Legitimationsideologie.
Klarer erkennbar wird nun - zunächst in idealistischer (Hegel) und dann in materialistischer Gestalt (Marx/Engels) das dialektische Bewegungsgesetz der sich beständig entwickelnden und verändernden Wirklichkeit, d. h. die systemimmanente Entfaltung von Widersprüchen zwischen bestimmten Systemkomponenten, die das Gesamtsystem destabilisieren und zu einer Widerspruchslösung (mit offenem Ausgang) drängen.

In diesem gesellschaftlichen Bewegungs- und Konfliktkontext entstehen dann auch neue Wertbegriffe und Leitorientierungen als Verarbeitungsresultat von konkret-realen Widerspruchs-, Leidens- und Negativerfahrungen. Für den feudalismus- und religionskritischen Aufklärungsmaterialismus ist hierbei folgende ideelle Ausgangsbasis kennzeichnend: Da es keinen eingreifenden Schöpfer-Gott und keine transzendente Über-Welt gibt, kann eine neue, wirklichkeitsadäquate und ehrliche Moral, die ein authentischeres Leben ermöglicht, nur von den Menschen selbst geschaffen werden. Die Menschen sind gemäß ihrer Vernunft-Natur in der Lage zu begreifen, dass sie selbst die Schöpfer der Werte sind und zwischen den objektivierten Werten frei wählen können. (Im Rahmen der heroischen Aufbruchstimmung wird dabei zunächst noch übersehen, dass innerhalb der neu entstehenden kapitalistisch-klassengesellschaftlichen Ordnung die freie Wahl zwischen divergenten Werten ganz neue Problempotentiale freisetzen wird.)

Aus subjektwissenschaftlicher Perspektive ist zunächst grundsätzlich davon auszugehen, dass objektive Umwelttatbestände am Maßstab ihrer Bedürfnisrelevanz bewertet und diese Wertungen als Emotionen in die psychische Tätigkeitsregulierung eingehen. Auf dieser Grundlage bilden sich Werturteile als Vergleich zwischen (a) sinnlich evidenten oder (analytisch) feststellbaren Tatsachen, (b) im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen (kognitiv und emotional verarbeitete Wahrnehmungen/Erlebnisse) und (c) objektiv-überindividuellen Wertbegriffen/Wertorientierungen. Dabei ist davon auszugehen, dass die objektiven Wertbegriffe/Wertorientierungen, die dem Individuum zunächst „äußerlich vorgegeben“ sind, immer eine negative Differenz zwischen Sein und Sollen oder konkreter: zwischen Realitätserfahrung und subjektivem Bedürfnis bzw. Tätigkeitsziel andererseits festhalten und ausdrücken. So ist zum Beispiel die Wertorientierung der Gerechtigkeit das Resultat kognitiv-emotional-motivationaler Verarbeitung von realen Ungerechtigkeitserfahrungen, die Wertorientierung der Freiheit das Resultat real erfahrener Unfreiheit/Unterdrückung etc.

In den Wertbegriffen und Wertorientierungen der Aufklärung spiegelt sich demnach die dialektische Negation der subjektiven Leidens-, Unterdrückungs- und Ungerechtigkeitserfahrung der religiös-feudalen Vormoderne:
1. Der Basiswert der Wahrheit und dessen subjektives Korrelat, die Vernunftfähigkeit als Grundlage der Produktion und Aneignung von Wissen, negieren die autoritär-absolutistischen Setzungen des religiösen Offenbarungsglaubens. „Ohne die Wahrheit kann der Mensch (…) nicht glücklich sein“ (Du Marsais, Holbach 1972, S. 30), sondern wird immer ein verzagter Sklave bleiben. In der Vernunft liegt die Würde des Menschen. „So ist die Moral auf der Vernunft gegründet, die selber wiederum nichts vermag ohne die Erfahrung und ohne die Wahrheit“ (ebd. S. 32). „Wahrheit, Weisheit, Vernunft, Tugend, Natur sind gleichwertige Begriffe, sie bezeichnen das, was dem Menschengeschlecht nützt...“ (ebd. S. 138).
2. Die Erfahrung von ständischer Einschränkung, politischer Unterdrückung und geistiger Bevormundung und Zensur provozieren den starken Ruf nach Freiheit, wobei vor allem die „freie öffentliche Meinungsäußerung“ eine wesentliche Rolle spielt: Zur „Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ (Kant, Akademieausgabe VIII b, S. 36).
In diesem Kontext entsteht auch die Idee des ‚freien’ Individuums als wesentlicher Umwälzungsaspekt des Aufklärungsdenkens. Nach dieser Auffassung verfügen die individuell-konkreten Menschen als Gattungsindividuen unabhängig von ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Einbettungen über das artspezifische Vermögen, „sich ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant). Im Lichte dieser allgemeinmenschlichen Fähigkeit zur Mündigkeit (d. h. Tradiertes kritisch zu reflektieren) werden die überlieferten Gemeinschaftsformen (Sippe, Stamm, Kaste, Stand, Religionszugehörigkeit etc.) nicht mehr als zwangsdeterministische Gebilde aufgefasst, die den Menschen eine unwandelbare und nichttranszendierbare Identität auferlegen. Dem individuellen Subjekt wird vielmehr die Kompetenz und das Recht zuerkannt, sich vom Tradierten (Althergebrachten, Gewohntem) zu distanzieren, die unmittelbar-zufälligen sozialen Bindungen, Standesgrenzen und Glaubenszugehörigkeiten zu überschreiten und seine Identität - im Rahmen des konkret-historisch limitierten Raumes alternativer Wahlmöglichkeiten - frei zu gestalten.
3. Die Idee des freien Individuums setzt wiederum die Vorstellung einer einzigen Menschheit voraus. Zwar unterscheiden sich demnach die konkret-empirischen Individuen in ihrer personalen Einzigartigkeit, ihren soziokulturellen Bezügen, reproduktiven Besonderheiten, spezifischen Lebensführungspraxen etc., aber sie sind zugleich vereint in gemeinsamen Dispositionen, Bedürfnissen, Fähigkeitsstrukturen und Interessen. Folglich gibt es nicht nur Besonderes, Einzelnes und Differentes im zwischenmenschlichen und interkulturellen Verkehr, sondern gleichzeitig immer auch Allgemeines, „Übergreifendes“ und Gemeinsames als Basis reziproker Kooperation, Verständigung und Perspektivenverschränkung. Nur weil ein bedeutungshaftes „gemeinsames Drittes“‘ in Gestalt von intersubjektiv geteilten Erkenntnissen, Werturteilen, Normen, Erfahrungen etc. existiert, kann zivilisiertes menschlich-interkulturelles Zusammenleben als tätige Begegnung von Gleichberechtigten gedeihen.
4. Als Reaktion sowohl auf die Erfahrung der feudalen Ausbeutung als auch auf die herrschaftliche Begünstigung der Schlechten und die Unterdrückung der Guten und Schwachen sowie auf die ständischen Privilegien, reagiert die Aufklärung mit der Postulierung von sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität („Brüderlichkeit“). Bereits Meslier (Krauss 2005, S. 267) prangert an, „dass die Stärksten, die Schlauesten und Raffiniertesten, die häufig auch die Schlechtesten und Unwürdigsten sind, den größten Teil der Güter der Erde erhalten und am besten mit allen Annehmlichkeiten des Lebens versehen sind.“ Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch Holbachs enge Verknüpfung von Vernunft, Glück und Moral als intersubjektiv-wechselseitige Beziehung: Aufgrund der Koexistenz mit anderen empfindungsfähigen und intelligenten Wesen muss der vernünftige Mensch einsehen, „daß es in seinem Interesse liegt, tugendhaft zu sein. Tugend ist nur die Kunst, durch Förderung der Glückseligkeit anderer sich selbst glücklich zu machen. Ein tugendhafter Mensch ist derjenige, der solchen Wesen Glück bereitet, die fähig sind, es ihm zurückzugeben (…) Da ist also die wahre Grundlage aller Moral.“ Die Gesellschaft „kann nur dann wirkliche Vorteile gewähren, wenn sie Wesen vereinigt, die von dem Verlangen beseelt sind, einander Gutes zu tun, und die gewillt sind, auf ihren gegenseitigen Nutzen hinzuarbeiten (…) mit einem Wort, kein Mensch kann für sich allein glücklich sein.“ (zit. n. Höffe 2002, S. 228).
5. Auf die trügerische Verkoppelung von Religion und Moral antwortet die Philosophie der Aufklärung mit ihrem Kampf gegen Amoralität, ethischen Nihilismus und destruktive Zügellosigkeit in Form einer neuen humanistischen Ethik und Moral und überwindet damit die hergebrachte religiöse Verformung von Geist und Seele. Von fundamentaler Bedeutung ist hierfür die Überzeugung, dass die Zunahme der Vernunft infolge von Wissens- und Bildungsfortschritt das zwischenmenschliche Wohlwollen steigere und gewissermaßen einen inneren Fundus an Güte freisetze. „An die Stelle der religiösen und politischen Tyrannei wird er (der denkende Mensch, H. K.) nicht die Anarchie der Leidenschaften setzen, und den Ketten der Religion wird er nicht die Entfesselung der Laster folgen lassen; vielmehr wird er die vom Fanatismus vorgeschriebenen Praktiken und Pflichten durch wirkliche Tugend ersetzen ... Wer die Unordnung rechtfertigt, ist ein Schurke, der nur seine eigene Rechtfertigung im Auge hat oder seine Mitbürger zu verderben sucht“ (Du Marsai, Holbach 1972, S. 135)(13).
6. Die ethisch-normative Quintessenz der Philosophie der Aufklärung bildet schließlich der Katalog der Menschenrechte, der sowohl die religiös-herrschaftliche Spaltung der Menschen in Rechtgläubige und Ungläubige („Verdammte“) überwindet als auch die geburtsrechtlich-ständische Ungleichheitsordnung außer Kraftt setzt. Neben dem Konzept der bürgerlichen Freiheiten als natürliche Individualrechte und dem Grundsatz der Trennung von Religion einerseits und Staat, Recht und Privatsphäre andererseits sind hier auch das Prinzip der Gewaltenteilung sowie das Prinzip der Rechtsbindung der Regierung und der staatlichen Apparate eingedenk der gemachten Erfahrungen mit feudaler Despotie und Willkürherrschaft hervorzuheben. Die realhistorische Aufbietung von kämpferischer, praktisch-kritischer Energie für die Durchsetzung dieser demokratischen/emanzipatorischen Ideenwäre letztlich undenkbar gewesen ohne die vorgängige geistige „Aufsprengung“ des theozentrischen Weltbildes bzw. der „Entgöttlichung“ des Mensch-Welt-Bezuges.

 

IV. 2. Die westlich-kapitalistische Moderne als formale Anerkennung und reale Negation des Wertehorizonts der Aufklärung
Im Rahmen des Übergangs von der vormodernen (Feudal-)Gesellschaft zur modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sind zwar menschheitsgeschichtlich herausragende Leitideen (Wahrheit/Vernunft, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität) und institutionalisierbare Konzepte wie die Idee der Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Trennung von Staat und Religion, die Zurückdrängung der (christlichen) Religion auf ein Teilsystem, die Demokratie u. s. w. entstanden. Diese Leitideen sind aber aufgrund ihrer Abstraktheit gegenüber den realen Ungleichheitsverhältnissen zwischen den entfeudalisierten, säkularisierten und asymmetrisch pluralisierten Gesellschaftsmitgliedern nur sehr unvollständig und zum Teil gar nicht eingelöst worden. Das genau ist - neben der Aufdeckung der widersprüchlichen Anatomie der kapitalistischen Vergesellschaftungsform - der eigentliche Kern des ursprünglichen „wissenschaftlichen Sozialismus“: Wie lässt sich im Interesse der allgemeinmenschlichen Aufklärungsideale die kapitalistische Selbstnegation der kulturellen Moderne theoretisch begreifen und praktisch-kritisch überwinden?
Betont Kant mit seinem kategorischen Imperativ formal-methodisch die rationale und moralische Verknüpfung von Allgemein- und Individualinteresse(14), so gibt der Marxsche kategorische Imperativ dieser Verknüpfung einen konkret-emanzipatorischen Inhalt:
„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“
(Marx 1981, MEW 1, S. 385).
Grundlegend für die Marxsche Theorie ist die Aufdeckung der kapitalismustypischen Nichtidentität bzw. des Gegensatzes von abstrakt begriffener individueller Freiheit und formaler Gleichheit, wie sie in der Zirkulationssphäre vorherrscht, einerseits und sozialer Gerechtigkeit bzw. realer Chancengleichheit, wie sie in der Produktionssphäre und im politischen Teilsystem negiert wird, andererseits. Entscheidend ist hierfür letztendlich die Pseudo-Äquivalenz im Tauschverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital. Denn die Eigentümlichkeit der Ware Arbeitskraft besteht darin, mehr Wert zu produzieren, als zu ihrer Reproduktion benötigt wird, wobei sich der Kapitalist diesen Wertüberschuss unentgeltlich aneignet. (Mehrwerttheorie). D. h. (klassen-)strukturelle Ungerechtigkeit herrscht gerade auch dort, wo eine formelle Gleichheit der Rechtsverhältnisse herrscht(15). Darüber hinaus wird die „abstrakte“ (von real-qualitativen Merkmalen absehende) Fokussierung auf quantitativ-formale Aspekte zwischenmenschlicher Interaktionen, Tätigkeitszusammenhänge und Handlungsresultate unbewusst von der Ökonomie auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen, wenn zum Beispiel sehr unterschiedlich motivierte Taten in der juristischen Bewertung/Strafzumessung gleichgesetzt und diese Gleichsetzung im Rahmen entfremdeter (inhaltsabstrakter) Denkformen begründet werden.
So löst die kapitalistische Marktvergesellschaftung den Einzelnen als „doppelt freien Lohnarbeiter“ zwar aus den Abhängigkeits- und Festlegungsformen des prämodernen Kollektivismus mit seinen hierarchischen Verhaltensstandards heraus, um ihn freilich sogleich wieder in neuer Form zu entindividuieren und auf etwas quantitativ Vergleichbares zu reduzieren (Ware Arbeitskraft; Käufer/Kunde/Konsument; Wähler etc.).
In dieser neuen Ausprägungsform beherrschter Subjektivität ist der Lohnarbeiter zwar frei von feudaler Abhängigkeit, aber gleichzeitig auch frei von Produktionsmitteln und damit nicht zu einer autonomen Existenzsicherung als „einfacher Warenproduzent“ in der Lage. Die „persönliche Freiheit“ erscheint somit zugleich in ihrer Negativität als Zwang zum Verkauf des individuellen Arbeitsvermögens an den Kapitaleigentümer. Ins Zentrum des subjektiven Sinnhorizonts rückt damit der Arbeitsmarkt als moderner Schicksalsgenerator; hier entscheidet sich weitestgehend die Lebensführungsmöglichkeit des auf Lohnarbeit angewiesenen Individuums. Die neue sachliche Abhängigkeit bedeutet demnach zunächst Marktabhängigkeit der individuellen Lebensperspektive, also Abhängigkeit von den Wechselfällen der quantitativen und qualitativen Angebots- und Nachfragestrukturen des Arbeitsmarktes. Dabei begegnen sich Käufer und Verkäufer der Ware Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt als freie und gleichberechtigte Akteure(16): „Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen (Marx 1976, S. 189f.).
Freilich zeichnet sich bereits direkt nach Ratifizierung des Arbeitsvertrags die zukünftige Stellung der formal freien und gleichen Rechtssubjekte ab: „Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markte getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die - Gerberei“ (ebd. S. 191).

Marx Kritik zielte demnach auf die moralische Scheinrechtfertigung von Besitz-, Verfügungs- und Herrschaftsverhältnissen (Verkleidung von Klasseninteressen als Allgemeininteresse), die er im Namen eines weitergehenden moralischen Legitimationsanspruchs (herrschaftskritisch-emanzipatorischer Imperativ) infrage stellte. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass sich individuelle Moralität bzw. Amoralität nicht kausal-mechanisch aus den ökonomischen (kapitallogischen) Strukturen ableiten lässt, sondern die komplexe Dialektik zwischen individueller Subjektivität (psychische Struktur), objektiver Realität (gesellschaftliche Struktur) und überindividuellen Bedeutungssystemen (weltanschaulich-ideologische Struktur) rekonstruiert werden muss. Dabei gilt es insbesondere die Eigenlogik subjektiver Realitätsverarbeitung auch unter dem Aspekt der relativen moralischen Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit zu erfassen.

Während somit einerseits eine objektiv-reale Divergenz zwischen bürgerlich-kapitalistischer (amoralisch-profitlogischer) Systementfaltung und den aufklärerischen (antifeudal-revolutionären) Wertorientierungen zum Tragen kommt, knüpfen im Kontext der nun einsetzenden sozialen Interessendialektik in Gestalt der Arbeiter- und Frauenbewegung neue Akteure an das emanzipatorische Sozialerbe und Wertegefüge an. Durch deren praktisch-kritische Gesamttätigkeit gelang nicht nur die Verankerung politischer Grundrechte für die Lohnabhängigen wie allgemeines Wahlrecht, Streikrecht, Koalitionsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit etc., sondern insbesondere die Durchsetzung eines ganzen Bündels sozialer Rechte und wohlfahrtsstaatlicher Regelungen wie Arbeitslosen-, Kranken-, Invaliden- und Rentenversicherung; Senkung der Arbeitszeit, gesetzlicher Urlaubsanspruch; Tarifverträge; Kündigungsschutzbestimmungen; Abfindungsregelungen u .v. m. Eine ähnliche progressive ‚Verrechtlichung’ lässt sich auch auf frauen- und familienpolitischem Gebiet beschreiben. Das zentrale Resultat dieses sozial-demokratischen Reformprozesses bildet die Metamorphose des Lohnarbeiters vom proletarischen Pauper zum politisch und sozialrechtlich anerkannten sowie wohlfahrtsstaatlich integrierten „Arbeitnehmer“. Summa summarum ist es damit den modernen Sozialbewegungen gelungen, in Verarbeitung und Weiterentwicklung der Ideen des Aufklärungshumanismus eine breite Bresche in das europäisch-kapitalistische Herrschaftssystem zu schlagen und damit einen im Vergleich zur prämodernen Herrschaftsweise relativ großen Raum für individuelle Selbstbestimmung und Freizügigkeit zu erobern. Ist dieser gesetzlich geschützte relative Freiraum auch aufgrund seiner Entstehung aus einer klassenkämpferischen Kompromissbildung beständigen (aktuell verstärkten) Bedrohungen seitens der profitlogisch agierenden Kapitaleigentümer und ihrer neoliberalen Bataillone ausgesetzt, so kann seine nach wie vor bestehende Existenz und Bedeutung doch nur um den Preis des Verlustes theoretischer und politischer Glaubwürdigkeit geleugnet werden.

Das Entwicklungsprodukt des neuzeitlichen Umwälzungsprozesses, die europäisch-kapitalistische Moderne, erweist sich demnach bei näherer Betrachtung als eine eigentümlich zusammengesetzte, dialektische Totalität, in der zwei widersprüchliche Kernbereiche miteinander koexistieren:
Der Bereich der weitestgehend profitlogisch durchformten ökonomisch-technisch-bürokratischen Modernität in Gestalt der sich zunehmend ausbreitenden kapitalistischen Warenproduktion, Marktökonomie und politisch-staatlichen Verwaltungstätigkeit. Hier befindet sich die neodespotische Herrschaftssphäre der sachlichen Abhängigkeit, Entfremdung und Verfügungsenteignung. (Abhängigkeit der individuellen Lebensperspektive von den unbegriffenen/unbeeinflussbaren Wechselfällen der Doppelherrschaft von Kapital und Bürokratie).
Der (wenn auch spätkapitalistisch-massenkonsumistisch überformte, zurück geschnittene und partiell deformierte, aber immerhin dennoch in grundlegenden Aspekten intakte) Bereich der kulturellen Moderne als Ensemble von Ideen, Rechten , Institutionen etc., die in ihrer Gesamtheit dem Einzelnen persönliche Unabhängigkeit, relative Freizügigkeit, soziokulturelle Wahl- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten, eine eingeschränkte politische Partizipation und nicht zuletzt auch eine freiheitliche Identitätsmöglichkeit als Voraussetzung für praktisch-kritische Subjektwerdungsprozesse sichern.
Den wohl augenfälligsten Ausdruck dieser dialektischen Wesensstruktur hat die kapitalistische Moderne in dem herrschaftstheoretisch relevanten und ideologisch umfangreich verschleierten Widerspruchsverhältnis zwischen politischer Gleichheit und sozialökonomischer Ungleichheit (chancenungleicher Ressourcenausstattung) gefunden. Sämtliche politisch einflussreichen Bewegungen nach der Französischen Revolution lassen sich angesichts dieser Grundkonstellation als Überwindungs- bzw. Verarbeitungsversuche dieses dialektisch-widersprüchlichen Konstruktionsfehlers begreifen: In ihrer rechtstotalitären (faschistischen und religiös-fundamentalistischen) Variante als regressiv-reaktionärer Versuch, unter Rückgriff auf Herrschaftsmittel der ökonomisch-technisch-bürokratischen Modernität die kulturelle Moderne auszumerzen und absolutistisch legitimierte persönliche Abhängigkeitsverhältnisse in Form terroristisch überwachter Lebensführungsdiktaturen wieder einzuführen; in ihrer linkstotalitären (stalinistischen) Variante als utopisch-voluntaristischer (Fehl-)Versuch, unter Missachtung und Umgehung der kulturellen Moderne die ökonomisch-technisch-bürokratische Modernität im Rahmen einer antibürgerlich-staatsbürokratischen Entwicklungsdiktatur zu assimilieren und anzuwenden; in ihrer bürgerlich-liberalen Variante(17)als Versuch, im stückwerktechnologisch-pragmatischen Wechsel zwischen Ausweitung der Staatstätigkeit und Marktausdehnung die kulturelle Moderne im Interesse verbesserter Kapitalverwertung zu beschneiden und in ihrer kritisch-emanzipatorischen Variante als Versuch, durch Zurückdrängung/Überwindung der sachenherrschaftlichen und arbeitsdespotischen Entfremdung und Verfügungsenteignung der unmittelbaren Produzenten die kulturelle Moderne zu universalisieren und auf den Bereich der ökonomisch-technisch-bürokratischen Modernität auszudehnen.

Die bürgerliche Demokratie im Allgemeinen wie die heutige postdemokratische Herrschaftsform im Besonderen ist jedenfalls strukturell dadurch gekennzeichnet, dass weder das Prinzip der „chancengleichen Fairness“ (Rawls) noch das voraussetzungsvolle Prinzip des „herrschaftsfreien Diskurses“ (Habermas) auch nur annähernd zur Anwendung gelangt. Sieht man einmal von der absolut unübersichtlichen Informations- und Kommunikationsanarchie des Internets ab, so ist die spätkapitalistische Öffentlichkeit der wachsenden Verflechtung von ökonomischer und ideologischer Herrschaft in Gestalt global wirksamer Medienkonzerne und einer ausufernden Infotainment-Industrie unterworfen, die Argumentation und rationalen Diskurs durch säuselnde Überredung, entpolitisierende Einlullung und demoskopische Meinungsvermarktung ersetzt.

Angesichts dieser Gegebenheiten sowie (a) der aktuellen Interessenverflechtung zwischen westlich-kapitalistischen Herrschaftsträgern, die sich zunehmend von den Wertegrundlagen der kulturellen Moderne entfernen, und nichtwestlichen Herrschaftskulturen, (b) der gesamtgesellschaftlichen Krisenentwicklung und demographischen Veränderungsprozesse in den europäisch-kapitalistischen Ländern („Eurozone“), (c) der Masseneinwanderung vormodern-religiös sozialisierter Immigranten, die ein reaktionär-antiemanzipatorisches Bewusstseins- und Verhaltensprofil aufweisen sowie (d) der herrschaftsstrategisch gewollten Förderung antiaufklärerischer Institutionen und Sozialmilieus, gilt es eine neue offensiv-kämpferische Bewegung zu formieren, die - in konsequenter Anknüpfung an die materialistisch-dialektisch aufgeklärten Aufklärungsideale - folgende Grundausrichtungen konsequent verbindet: Kritik der aktuellen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, allgemeine Religionskritik und Islamkritik.

 

Literaturverzeichnis:

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1)  Im Folgenden dokumentieren wir die leicht überarbeitete Version eines Vortrags, den Hartmut Krauss am 2./3. März 2013 während eines GAM-Seminars in Berlin gehalten hat.

2)  So schwindet weltweit das Vertrauen in die kapitalistisch-marktwirtschaftliche Ordnung.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/us-studie-weltweit-sinkt-glaube-an-kapitalismus-und-marktwirtschaft-a-844110-druck.html

3)  Interessanterweise kann das Ausbleiben vorausgesetzter moralischer Handlungsweisen sogar im rechtlichen Sinne strafwürdig sein, wie im Fall der unterlassenen Hilfeleistung: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ § 323c StGB

4)  Höffe 2004, (FAZ vom 23. August 2004, S. 4)

5)  „Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d. h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen“ (Marx und Engels, MEW 3, 1969, S. 47).

6)  In einem Brief an Joseph Bloch schreibt Friedrich Engels am 21. September 1890 über den Verlauf der bisherigen antagonistischen Vergesellschaftungsgeschichte der Menschen in dramatisierend-erhellender Zuspitzung: „Denn was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat“ (MEW 37, S. 464).

7)  Vgl. hierzu Minois 2000, S. 392ff.

8)  Meslier wendet sich auch entschieden gegen das christliche Scheidungsverbot und prangert dessen destruktive Folgen für die Psyche der betroffenen Männer, Frauen und Kinder an.

9)  „und diejenigen, die das meiste Übel zu ertragen haben, sind deswegen nicht immer die Anständigsten und Tugendhaftesten“ (Meslier, zit. n. Krauss 2005, S. 234).

10) „Eine beträchtliche Anzahl der auf dem Scheiterhaufen verbrannten ‚Hexen’ stellten offensichtlich Frauen mit gestörter Psyche, an Hysterie Erkrankte oder geistig beschränkte Personen dar.“ Zudem „gab es im Mittelalter einen Frauenüberschuß; da die Frauen nicht am Krieg, an den zahlreichen Fehden und gefahrvollen Unternehmungen teilnahmen, ... waren sie gegenüber den Männern in der Überzahl und füllten die Klöster und alle möglichen Gott wohlgefälligen Anstalten“ (Grigulevic 1985, S. 183).

11) „Lockes recht bittere Sicht der menschlichen Neigung zu Illusionen sowie zu törichtem und destruktivem Verhalten ist sozusagen eine naturalistisch gewendete Lehre von der Erbsünde“ (Taylor 1996, S. 438).

12) Schopenhauer und Nietzsche repräsentieren in jeweils besonderer Form eine Negation der progressiven Gründerideale und Philosophien der antifeudalen Bewegung des revolutionären Bürgertums: An die Stelle der aufklärerischen Wahrheitsorientierung tritt bei ihnen Erkenntnispessimismus; der Mensch als vernunftfähiges Gattungsindividuum mit Einsichtsfähigkeit in das objektive Sittengesetz wird ersetzt durch eine irrationale Willensmetaphysik sowie eine Ent-Rationalisierung und Amoralisierung des Subjekts. Damit wird letztendlich die Möglichkeit einer allgemeinverbindlichen bzw. überindividuellen Moral negiert und stattdessen die Erfahrung von Leid und Kampf verabsolutiert oder durch eine gruppenegoistische „Herrenmoral“ (Nietzsche) konterkariert.

13) Sehr klarsichtig wird zudem die Verstrickung auch nichtreligiöser Menschen in die religiöse Moralfalle gesehen: „Wir sehen oft, wie sich verdorbene Menschen von ihren religiösen Vorurteilen, deren Nichtigkeit ihr Geist erkannte, befreien und höchst unklug daraus folgern, daß die Moral keine festere Grundlage besitzt als die Religion. Sie meinen, daß, nachdem diese einmal abgetan ist, keine Pflichten mehr für sie bestünden und sie sich hinfort allen möglichen Ausschweifungen hingeben dürften. Wenn wir nach der Ursache für die sogenannte Philosophie dieser üblen Klugredner forschen, dann werden wir erkennen, daß sie von keiner echten Wahrheitsliebe besessen sind.“ (Du Marsais, Holbach 1972, S. 129)

14) „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne.“ (Kant, Akademieausgabe V, S. 30)

15) Vgl. hierzu ausführlich Treptow 2012.

16) „Trotz des Vordringens freier vertraglicher Arbeitsverhältnisse gab es noch bis zur Revolution von 1918 Gesindeordnungen, die es erlaubten, über die Dienstboten nach Lust und Laune zeitlich unbegrenzt zu verfügen und sie auch körperlich zu bestrafen“ (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2001, S. 274f.).

17) Die bürgerlich-konservative Variante lässt sich als abgeschwächte bzw. gemäßigte Form der rechtstotalitären Strategie identifizieren. Oder umgekehrt: die rechtstotalitäre Variante lässt sich als radikalisierte bzw. zugespitzte Form der bürgerlich-konservativen Strategie (weitgehende Zurückdrängung der kulturellen Moderne mit formal-legalen/nichtterroristischen Mitteln) bestimmen.

 

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