Hartmut Krauss

 

Europäische Moderne und islamische Herrschaftskultur

Zur Problematik importierter psychischer und kultureller Traditionalität1



Einleitung

Infolge der Herausbildung eines mehrstufigen Umwälzungsprozesses fand in Europa der revolutionäre Übergang von der mittelalterlich-feudalen Vormoderne zur neuzeitlichen Moderne statt, der schließlich zur Etablierung der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaftsformation geführt hat. Getragen und praktisch-kritisch durchgesetzt wurde diese Umwälzung von antifeudalen Oppositionskräften unter Führung städtebürgerlicher Schichten im Rahmen sehr heterogener Bündniskonstellationen2.

Soziokulturell betrachtet basiert dieser Umwälzungsprozess auf den Kernetappen Renaissance, Reformation und Aufklärung. Politisch stechen hier die englische und französische Revolution hervor. Ökonomisch wurde der qualitative Übergang durch die industrielle Revolution als Ausgangsfundament der kapitalistischen Produktionsweise vorangetrieben.

Trotz des Kolonialismus, Imperialismus und zweier Weltkriege sowie der kapitalistischen Negation zahlreicher emanzipatorischer Gründerideale gelang hier, also in Europa, erstmalig und nachhaltig die endogene (auf eigenen kulturinternen Ressourcen beruhende) Überwindung vormoderner Herrschaftsverhältnisse sowie die Hervorbringung eines ganzen Ensembles „moderner“ (posttraditionaler) Prinzipien: So das Konzept der universellen Menschenrechte (gegen die ständisch-religiöse bzw. geburtsrechtliche Zuteilung von Lebenschancen), die Trennung von Religion einerseits und Staat, Recht und Privatsphäre andererseits, die Idee des freien und emanzipationskompetenten Individuums, das Regulativ der Gewaltenteilung, die Prinzipien der Volkssouveränität, der Demokratie sowie der Rechtsbindung des Regierungsinstanzen etc. Kurzum:

Europa ist die Geburtsstätte der kulturellen Moderne und einer säkular-menschenrechtlichen Lebensordnung.

Dieses revolutionäre Sozialerbe könnte und müsste die probate Identitätsgrundlage einer kulturhistorisch gewachsenen Wertegemeinschaft bilden, die es gegen spätkapitalistische (Selbst-)Negationen einerseits und nichtwestlich-herrschaftskulturelle Anfeindungen und Zersetzungen andererseits zu bewahren und auszubauen gälte.

Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist aber auch, dass diese zivilisatorischen Leitprinzipien der kulturellen Moderne auf Seiten der europäischen Gesellschaftsmitglieder eine wirksame subjektive Verankerung erfahren, d.h. in die psychische Tätigkeitsregulierung Eingang finden und somit die Gestalt einer stabilen Überzeugungsbasis annehmen. Für die Psychologie wäre es durchaus eine wichtige Aufgabe, diese Transformation von kulturhistorisch relevanten Werten in subjektive Überzeugungen bzw. Einstellungen genauer zu beleuchten.



Vormoderne und moderne Herrschaftskultur

Betrachten wir zunächst den grundlegenden Unterschied zwischen vormodernen und modernen Gesellschaftsverhältnissen und den damit korrespondierenden kulturellen Leitkonzepten.

Vormoderne Gesellschaftsordnungen weisen insbesondere zwei Kernmerkmale auf:

Erstens: Die zwischenmenschlichen Herrschaftsverhältnisse beruhen im Wesentlichen auf persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen in Form von Sklaverei, feudalwirtschaftlicher Tributpflicht, geburtsrechtlicher Rangordnung, hierarchischen Stammesbeziehungen, patriarchalischen Strukturen, rentenökonomischen Klientelbeziehungen etc.

Zweitens: In diesem Beziehungskontext fungieren die religiösen Glaubenssysteme als allein und absolut gültige geistig-kulturelle Instanzen der Weltdeutung und Verhaltensnormierung. Das heißt, das Religiöse durchdringt hier sämtliche Lebensbereiche, und zwar in seiner mehrschichtigen Eigenschaft als mythologische Glaubenslehre (hochkulturelle Theologie und massenkulturelle Gläubigkeit), als Legitimationsideologie (Sakralisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse als „gottgewollte“ Ordnung) und alltagsethisch wirksames Kontroll- und Normierungssystem. Die zwischenmenschlichen Herrschaftsbeziehungen werden folglich durch ein umfassendes und absolut gültiges religiöses Bedeutungssystem codiert, abgesichert und sozialisatorisch reproduziert.

Du Marsais und d’Holbach sehen in ihrem „Essay über die Vorurteile“ (herausgegeben 1769) den religiösen Aberglauben als zentrales Herrschaftsmittel:

„Indem die Religion die Moral auf den Willen der Götter gründet, gründet sie diese in Wahrheit auf die Machtbefugnis einiger Spitzbuben, die es auf sich nehmen, im Namen dieser unsichtbaren Mächte zu sprechen ... So geht aus alledem hervor, wie wichtig es ist, die Sterblichen von ihren religiösen Vorurteilen zu heilen, die ihrerseits ihre politischen Vorurteile entstehen lassen“ (S. 28). Und:

„Die Menschen sind nur deshalb so unglücklich, so lasterhaft, so geteilt in ihren Interessen, so unbedacht in ihren Leidenschaften, so feige ihren religiösen und politischen Tyrannen unterworfen, so der Wahrheit entfremdet, so feindlich gesinnt allem Guten, das man ihnen erweisen will, weil man ihnen von Kindheit an die Binde vor die Augen gelegt hat, die abzulegen ihnen die Tyrannei stets verwehrt“. (ebd.)

Das weltanschaulich dominante Kernstück der vormodernen (vorindustriell-agrarisch-feudal fundierten) Herrschaftsorganisation war und ist das theozentrische Weltbild. Sein Grundcharakteristikum ist die Leugnung der autonomen Subjektqualität der Menschen als vernunftbegabte Selbstgestalter ihres eigenen Lebensprozesses und stattdessen die Setzung Gottes als allmächtiger Schöpfer, Gestalter und Richter des Weltgeschehens, um den sich alles dreht. Das herausragende Wesensmerkmal dieses Welt- und Selbstverständnisses ist demnach der Verzicht auf die Wahrnehmung einer eigenständigen (gottunabhängigen) Gestaltungsfähigkeit gegenüber der äußeren Welt und dem eigenen Selbst. Die gattungsspezifischen Wesenskräfte der Menschen werden auf eigentümliche Weise vom irdischen Grund abgetrennt, auf das transzendentale Medium „Gott“ projiziert und damit „unrealistisch“ überhöht: Mit dem Glauben an die abgetrennte Wesenskraft will man „Berge versetzen“. Der Mangel an Realitätskontrolle („das irdische Jammertal“) wird mit dem „Setzen“ auf eine übernatürliche Instanz kompensiert („Erlösung im Jenseits“).

Diese theozentrische Weltanschauung beinhaltet in den unterschiedlichen konkreten (monotheistischen) Glaubenssystemen eine religiös-ontologische Rechtfertigungslehre bezüglich der bestehenden irdischen Herrschaftsbeziehungen (zwischen Herrschern und Untertanen; Gläubigen und Ungläubigen; Männern und Frauen, Stämmen, Sippen und Ethnien etc.). Insofern fungierten und fungieren die religiösen Glaubenssysteme immer auch als ‚ausgesprochene‘ Herrschaftsideologien. So gilt die soziale (geburtsrechtlich-ständische) Ungleichheitsstruktur der feudalen Gesellschaft mit ihren spezifischen Ausbeutungs-, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen in der christlich-religiösen Sichtweise als durch göttlichen Willen vorherbestimmte und damit unveränderbare Ordnung.

Im Islam, der im Unterschied zum Christentum keine einschränkende Aufklärungsbewegung über sich hat ergehen lassen müssen, werden unter Verweis auf den Koran, Sure 4/Vers 59 („O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben“) die irdischen Herrschaftsbeziehungen sakralisiert, d.h. als heiliges Gebot Allahs sanktioniert. Insofern der Imam Nachfolger des Propheten (Kalif) ist, agiert er gleichzeitig als unantastbarer religiöser und politischer Führer im Interesse der Erhaltung/Einhaltung der göttlichen Gesetzesordnung. In kulturell unterschiedlicher Ausprägung firmiert damit die theozentrisch-religiöse Weltanschauung als ‚ideologischer Kitt‘ z.B. der christlich-abendländischen Feudalordnung sowie der islamisch-orientalischen Herrschaftsordnung.

Im Unterschied hierzu sind moderne Herrschaftskulturen durch folgende grundlegenden Aspekte gekennzeichnet:

Erstens: Durch sachliche („unpersönliche“) Abhängigkeitsbeziehungen im Rahmen der marktvermittelten kapitalistischen Ökonomie. So zeichnet sich bereits direkt nach Ratifizierung des freien Arbeitsvertrages zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter die zukünftige Stellung der formal freien und gleichen Rechtssubjekte ab: „Der ehemalige Geldbesitzer“, so Marx (1976, S 191), „schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markte getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die - Gerberei“. (ebd., S. 191). Zweitens: Durch formale politisch-rechtliche Gleichheit und Freizügigkeit (individuelle Freiheitsrechte außerhalb der asymmetrischen Sphäre der kapitalistischen Ökonomie) und drittens durch Aufhebung der repressiven Monopolstellung des Religiösen als absolut gültige geistig-moralische Deutungs- und Normierungsmacht.

Mit der Aufwertung der irdischen Lebenstätigkeit und der damit verbundenen Möglichkeit der individuellen (gottesunabhängigen) Erzielung von Erfolg und Lebensglück geraten nun aber zwei zentrale Merkmale der mittelalterlichen Subjektivitätsform unter Druck: zum einen die kulturell dominante und subjektiv „im tiefsten Inneren“ nachempfundene Orientierung auf eine postmortale Erlösung im Jenseits; zum anderen die bedeutungs- und sinnhafte „Auflösung“ des Einzelnen in den sozialen (stets christlich-religiös durchwirkten) Bezugsgemeinschaften. Oder andersherum betrachtet: Mit der Säkularisierung und Individualisierung sind die beiden elementaren Fermente der Neuzeit entstanden, die sich untrennbar verbinden mit der Selbstbewusstwerdung des Menschen als Gattungssubjekt und Individuum.



Durchbrechung des christlich-religiösen Deutungs- und Normierungsmonopols und die Herausbildung moderner Subjektivität

Im Rahmen der Überwindung der weltanschaulich-kulturellen Prägekraft des theozentrischen Weltbildes wird also die gesellschaftliche Normierungsmacht der christlichen Religion systematisch untergraben und geschwächt. Insbesondere büßt sie ihre Eigenschaft als absolute, d.h. allein gültige und letztlich entscheidende geistige Normierungsinstanz ein. Als wesentliche Faktoren dieses Umbruchprozesses und zugleich als zentrale Konstitutionsmomente der kulturellen Moderne sind folgende Aspekte anzuführen:

1) Attackiert wird das dem christlichen Theozentrismus eingeschriebene Dogma vom „erbsündigen“, zur eigenen Befreiung unfähigen, auf Gedeih und Verderb der göttlichen Erlösung ausgelieferten Menschen. Demgegenüber wird die Schöpferkraft, Selbstverantwortung und Würde des Menschen (als Gattung und Individuum), also seine vernunftvermittelte Subjektivität, hervorgekehrt. Im Kern wird damit die Wiederaneignung der auf Gott projizierten menschlichen Wesenskräfte postuliert; folgerichtig rückt der Homo faber in den Mittelpunkt des Weltgeschehens.

2) Im Zuge der geistigen Auseinandersetzungen zwischen feudaler Reaktion und antifeudaler Befreiungsbewegung kommt es sukzessive zur Entkoppelung von Glauben und Wissen nicht nur als Basis für die Entstehung der modernen Wissenschaften, sondern zugleich als Voraussetzung für Säkularisierung (Verweltlichung von gesellschafts- und selbstbezogenen Denk- und Handlungsformen) und institutioneller Trennung von Religion und Politik.

3) Wesentlicher Bestandteil der antifeudalen Befreiungsbewegung ist die Idee und spätere revolutionäre Proklamation der Menschenrechte sowie das Konzept der bürgerlichen Freiheiten als natürliche Individualrechte. Hervorzuheben ist hier auch das Prinzip der Rechtsbindung der Regierung und der staatlichen Apparate eingedenk der gemachten Erfahrungen mit feudaler Despotie und Willkürherrschaft. Die realhistorische Aufbietung von kämpferischer, „praktisch-kritischer“ Energie für die Durchsetzung dieser ‚demokratischen‘/emanzipatorischen Ideen wäre letztlich undenkbar gewesen ohne die vorgängige geistige ‚Aufsprengung‘ des theozentrischen Weltbildes bzw. der „Entgöttlichung“ des Mensch-Welt-Bezuges.

4) Ein zentraler Umwälzungsaspekt des Aufklärungsdenkens ist die Idee des freien Individuums. Nach dieser Auffassung verfügen die individuell-konkreten Menschen als ‚Gattungsindividuen‘ unabhängig von ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Einbettungen über das artspezifische Vermögen, sich ihres „Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant). Im Lichte dieser ‚allgemeinmenschlichen‘ Fähigkeit zur Mündigkeit (d.h. Tradiertes kritisch zu reflektieren) werden die überlieferten Gemeinschaftsformen (Sippe, Stamm, Kaste, Stand, Religionszugehörigkeit etc.) nicht mehr als zwangsdeterministische Gebilde aufgefasst, die den Menschen eine unwandelbare und nichttranszendierbare Identität auferlegen. Dem individuellen Subjekt wird vielmehr die Kompetenz und das Recht zuerkannt, sich vom Tradierten (Althergebrachten, Gewohntem) zu distanzieren, die unmittelbar-zufälligen sozialen Bindungen, Standesgrenzen und Glaubenszugehörigkeiten zu überschreiten und seine Identität - im Rahmen des konkret-historisch limitierten Raumes alternativer Wahlmöglichkeiten - ‚frei‘ zu gestalten.

5) Die Idee des freien Individuums setzt wiederum die Vorstellung einer einzigen Menschheit voraus. Zwar unterscheiden sich demnach die konkret-empirischen Individuen in ihrer personalen Einzigartigkeit, ihren soziokulturellen Bezügen, reproduktiven Besonderheiten, spezifischen Lebensführungspraxen etc., aber sie sind zugleich vereint in gemeinsamen Dispositionen, Bedürfnissen, Fähigkeitsstrukturen und Interessen. Folglich gibt es nicht nur Besonderes, Einzelnes und Differentes im zwischenmenschlichen und interkulturellen Verkehr, sondern gleichzeitig immer auch Allgemeines, ‚Übergreifendes‘ und Gemeinsames als Basis reziproker Kooperation, Verständigung und Perspektivenverschränkung. Nur weil ein bedeutungshaftes ‚gemeinsames Drittes‘ in Gestalt von intersubjektiv geteilten Erkenntnissen, Werturteilen, Normen, Erfahrungen etc. existiert, kann zivilisiertes menschlich-interkulturelles Zusammenleben als tätige Begegnung von Gleichberechtigten gedeihen.



Zwischenbemerkung zur Dialektik der kapitalistischen Moderne

Erst mit dem gehörigen Abstand eines knappen Jahrhunderts werden Karl Marx und Friedrich Engels die antifeudal-revolutionäre Aufklärung, „dieses Reich der Vernunft“, als „idealisiertes Reich der Bourgeoisie“ dekonstruieren. Diese Kritik ist stichhaltig im Hinblick auf die Nichteinlösbarkeit der allgemeinmenschlichen Emanzipationsziele im Rahmen der sich nachrevolutionär entfaltenden bürgerlich-kapitalistischen Ungleichheitsordnung mit ihrer klassendialektischen und warenfetischistischen Grundkonstitution. Andererseits wäre diese Kritik aber als einfache Negation bzw. defätistischer Kritizismus verfehlt, wenn ihr Folgendes entginge: Zwar verkennt der europäische Aufklärungshumanismus seine eigene Falsifikation durch die Gesetze der Kapitalverwertung, aber er hat dennoch eine praktisch-kritisch durchsetzungs- und vergegenständlichungsfähige Bewegung von herausragender menschheitsgeschichtlicher Bedeutung hervorgebracht. Diese hat in ihrem Einflussbereich nicht nur die Grundlagen der prämodernen Herrschaftsverhältnisse systematisch außer Kraft gesetzt, sondern in Gestalt der kulturellen Moderne auch eine neue menschliche Tätigkeits- und Lebensdimension aufgeschlossen, die überhaupt erst das Fundament für zukünftige menschliche Entwicklungsfortschritte bildet.

Betrachtet man das letztendliche Entwicklungsprodukt dieses europäischen Transformationsprozesses in Gestalt der bürgerlich-kapitalistischen ‚Moderne‘, so erweist sich diese bei näherer Betrachtung als eine eigentümlich zusammengesetzte, dialektische Totalität, in der zwei widersprüchliche Kernbereiche miteinander koexistieren:

A. Der Bereich der weitestgehend ‚profitlogisch‘ durchformten ökonomisch-technisch-bürokratischen Modernität in Gestalt der sich zunehmend ausbreitenden kapitalistischen Warenproduktion, Marktökonomie und politisch-staatlichen Verwaltungstätigkeit. Hier befindet sich die neue Herrschaftssphäre der sachlichen Abhängigkeit, Entfremdung und Verfügungsenteignung. (Abhängigkeit der individuellen Lebensperspektive von den unbegriffenen/unbeeinflussbaren Wechselfällen der Doppelherrschaft von Kapital und Bürokratie).

B. Der (wenn auch spätkapitalistisch-massenkonsumistisch) überformte, zurück geschnittene und partiell deformierte, aber immerhin dennoch in grundlegenden Aspekten intakte Bereich der kulturellen Moderne als Ensemble von Ideen, Rechten, Institutionen etc., die in ihrer Gesamtheit dem Einzelnen persönliche Unabhängigkeit, relative Freizügigkeit, soziokulturelle Wahl- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten, eine eingeschränkte politische Partizipation und nicht zuletzt auch eine freiheitliche Identitätsmöglichkeit als Voraussetzung für praktisch-kritische Subjektwerdungsprozesse sichern.

Ein zentrales Prinzip der europäischen Aufklärung im Allgemeinen sowie der Französischen Revolution im Besonderen kommt in ebenso knapper wie klarer Form in Artikel 10 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26 August 1789 zum Ausdruck:


Niemand soll wegen seiner Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äußerung nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stört.“


Bei näherer Betrachtung enthält die Aussage folgende normativen Implikationen:

1. Es gibt - entgegen dem nihilistischen Liberalismus - keine absolute (grenzenlose) weltanschauliche Äußerungs- und Ausübungsfreiheit. Diese steht vielmehr unter dem Vorbehalt, die neue „moderne“ (postfeudale) öffentliche Ordnung, die Freiheit, Gleichheit und zwischenmenschliche Solidarität begründen soll, nicht zu stören bzw. negativ zu beeinträchtigen oder gar revidieren zu wollen. Es gilt somit das Prinzip „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ bzw. Freiheitsbeschränkung für die Kräfte der Restauration vormoderner Herrschaftsverhältnisse3.

2. Es gibt - in Anbetracht der Erfahrungen mit der Rolle der christlichen Religion als Machtinstanz feudaler Herrschaftsverhältnisse und Quelle kriegerischer Zwietracht - keine Privilegien mehr für „Anschauungen religiöser Art“. Religiöse und nichtreligiöse (säkular-humanistische, atheistische etc.) Weltanschauungsformen sind fortan gleichgestellt. Eine spezifische „Religionsfreiheit“ jenseits und zusätzlich zur ohnehin kodifizierten Weltanschauungsfreiheit im Rahmen der neuen „modernen“ öffentlichen Ordnung ist überflüssig.

In Gesamtkontext der Kollision des postmodernen Kapitalismus mit der islamischen Herrschaftskultur wird nun genau dieser aufklärungshumanistische Kernaspekt der kulturellen Moderne negiert bzw. von den westlichen Herrschaftsträgern mehrheitlich verraten4.

Betrachtet man hingegen die religionskritischen Reflexionen und Positionen der Vertreter des Aufklärungsmaterialismus bzw. der „Radikalaufklärung“, so findet man bei ihnen bereits viele grundlegende Erkenntnisse, die nicht nur für das Christentum als Legitimationsideologie des europäischen Feudalismus Gültigkeit besitzen, sondern auch und gerade auf den Islam und die durch ihn geprägte und bis heute unaufgeklärt gebliebene Herrschaftskultur zutreffen.

Im Folgenden an dieser Stelle nur einige kleine Kostproben zur vorwegnehmenden Islamkritik des Aufklärungsmaterialismus:

„In der Tat“, so Meslier, „ sieht man keine blutigeren und grausameren Kriege als solche, die aus einem religiösen Motiv oder Vorwand begonnen werden“ (Krauss 2005, S. 111).

Aus heutiger Perspektive ist beachtlich, dass sich Meslier in diesem Zusammenhang bereits über den Stifter des Islam äußert: „Schließlich ... hat auch der so hoch angesehene falsche Prophet Mohammed durch ebendenselben Kunstgriff, durch Täuschung und Betrug, seine Gesetze und seine Religion im ganzen Orient durchgesetzt, indem er die Leute glauben machte, jene seien ihm durch den Engel Gabriel vom Himmel geschickt worden“ (ebenda, S. 91).

D’Holbach (2016, S. 110) urteilt: „Die Spanier haben eine ungeheure Menge Amerikaner niedergemetzelt. Die Mohammedaner sind in ihren, von ihrem Propheten befohlenen, Eroberungen nicht weniger wild gewesen. Anbeter eines Gottes von diesem Charakter können nicht von Herzen und aufrichtig mäßig und friedfertig sein, ohne ihn zu verraten oder ihrer Sache zu schaden.“ (S. 110)

D’Holbach akzentuiert auch die glaubensdogmatisch festgelegte Kumpanei aller Gläubigen mit den unmittelbaren Vollstreckern der religiösen Bösartigkeiten: „Es ist ihnen nicht erlaubt, sich von den Grundsätzen des Systems zu entfernen. (…) Wollen sie richtige Folgerungen ziehen, so müssen sie ohne Anstand die (himmlischen, H.K.) Befehle (…) vollstrecken. Mit der größten Gelehrigkeit die Leidenschaften annehmen, die man ihnen im Namen Gottes einflößen will, ohne Unterschied die Feinde seines Ruhms vertilgen, die heimlichen Anschläge derer, die sein verborgenes Vorhaben wissen, unterstützen, und, wenn es sein muss, in der Gesellschaft Unruhe erregen, ja sie zerstören, wenn ein solches Opfer der Gottheit angenehm sein sollte.“ (Ebenda, S.106) Und weiter:

„Ein Aberglaube, der zum Gegenstand seiner Verehrung einen fürchterlichen, treulosen, grausamen und blutdürstigen Gott hat, muss über kurz oder lang Schwärmer, Enthusiasten und Rasende gebären. In den Händen der Tyrannen und der Betrüger wird er ein sicheres Schwert sein, um die Welt mit Blut zu überströmen und Elend anzurichten.“ (S. 107)

Darüber hinaus wird auch die religiöse Situationstaktik in Abhängigkeit von den jeweils konkreten Kräfteverhältnissen beschrieben: „Die Apostel einer aufkeimenden und unter Druck stehenden Religion waren also genötigt, Geduld, Toleranz und Sanftmut zu empfehlen. Sobald sie aber Gewalt bekamen, so änderten sie den Ton. Sie predigten Rache, Feuer und Schwert, und machten aus der Welt einen Friedhof.“ (...) „Nach ihren Willen wurden die Anhänger sanft oder ungestüm, geduldig oder rebellisch, menschlich oder barbarisch, wie es ihre Umstände erforderten.“ (S. 110).



Der Islam als Negation der kulturellen Moderne

Im Gegensatz zu den skizzierten komplexen Entwicklungsverläufen in Europa besitzt die vormodern-religiöse und autoritär-patriarchalische Herrschaftskultur in nichtwestlichen Gesellschaftsordnungen nach wie vor eine noch weitgehend ungebrochene alltagskulturelle Normierungskraft. Das gilt gerade auch für die bevölkerungsexplosiven Länder mit einer gesetzesislamisch fundierten Herrschafts- und Staatsideologie und/oder übermächtigen alltagsislamischen Traditionskulturen. Vor allem hier sind - infolge der weitgehend noch ungebrochenen vormodernen Herrschaftsstrukturen und der sie befestigenden religiösen Legitimationsideologie - autoritäre Persönlichkeitsstrukturen und Einstellungsmuster (Subjektivitätsformen) besonders massiv ausgeprägt und verbreitet.

Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass der menschenrechts- und frauenfeindliche Sittenkodex der monotheistischen Weltanschauungen, wie er vom Islam auf spezifische und besonders drastische Weise verkörpert wird, ein Produkt und untrennbarer Wesensbestandteil der patriarchalisch-autoritären Gesellschaft ist.

Hervorzuheben ist demnach, dass es im Herrschaftsgebiet des Islam bislang keine durchsetzungsfähige Aufklärungsbewegung gegeben hat, welche in der Lage gewesen wäre, die absolute Geltungsmacht des orthodoxen Islam entscheidend einzuhegen und wirkungsvoll einzudämmen5. Dieser Sachverhalt ist auch insofern von Bedeutung, als dass mit der Masseneinwanderung von Muslimen in die europäischen Gesellschaftssysteme ein entsprechender Problemdruck importiert wurde und wird.

Aus kritisch-gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive lässt sich der Islam als die kulturell-normative ‚Programmiersprache‘ bzw. ‚Grammatik‘ eines spezifischen Herrschaftssystems begreifen. Dabei bilden der Koran, die Hadithsammlung, die Scharia (in Form von vier Rechtsschulen) sowie die dominanten Auslegungsdogmen der Religionsgelehrten die objektiven Grundquellen dieses herrschaftskulturellen Programmiersystems. Dessen konstitutives Glaubensprinzip besteht darin, dass der behauptete Wille Allahs vorgeblich vermittels des Propheten Mohammed offenbart worden ist und objektiv vergegenständlicht im Koran vorliegt. Dabei gilt der Text des Korans als unmittelbares Gotteswort, das nach seiner Verkündung absolute, räumlich und zeitlich uneingeschränkte Gültigkeit beansprucht. Mit diesem Status behaftet sind angeblicher Auslegungswillkür a priori sehr enge Grenzen gezogen.

Das Grundprinzip des orthodoxen Islam besteht darin, dass er soweit wie möglich eine vormodern-frühmittelalterliche Sozial- und Moralordnung als ewig und absolut verbindliches, göttlich sanktioniertes Konzept fixiert und überhöht/sakralisiert. Auch damit erweist er sich als eine sämtliche Lebensbereiche umfassende Weltanschauung, politische Doktrin und Herrschaftsideologie, die in dieser Grundgestalt nicht im Entferntesten den Charakter einer lediglich auf spirituelle Innerlichkeit ausgerichteten und subjektiv beliebig deutbaren Privatreligion besitzt. Betrachten wir nun die grundlegenden Inhalte der islamischen Weltanschauung, dann zeigt sich folgendes Bild:

1. Zunächst bezieht sich der absolute Herrschaftsanspruch des Islam auf alle individuellen Menschen als Geschöpfe Allahs. Demgemäß besteht die Grundanforderung des Islam darin, dass sich der einzelne Mensch in seiner Lebensführung ganz und gar auf die Hingabe an Allah konzentrieren und sich dessen offenbarten Willen unterwerfen soll. Im Koran Sure 51, Vers 56 heißt es: „Ich habe (Dschinnen und) die Menschen nur geschaffen, damit sie mich verehren“. Diese bedingungslose „Hingabe an Gott“ bzw. „Unterwerfung unter den Willen Gottes“ - die eigentliche Bedeutung des Wortes ‚Islam‘ - beinhaltet die Befolgung eines allumfassenden Vorschriftenkataloges als den wahren Gottesdienst. Mit diesem auch psychologisch relevanten Unterwerfungsanspruch fördert die islamische Glaubenslehre die Ausprägung autoritätsfixierter Persönlichkeitsstrukturen und wirkt gegen die Entfaltung von individueller Autonomie, kritischer Urteilskraft, Selbstbestimmung und Ich-Stärke. Der Einzelne soll als gehorsamspflichtiges Rädchen in der Gemeinschaft der Rechtgläubigen „aufgehen“.

2. Das Fitra-Konzept: Dabei handelt es sich um die Setzung/Behauptung einer islamischen Grundnatur jedes Menschen. Demnach wird jeder Mensch im Grunde als Muslim geboren. Erst widrige soziokulturelle Einflüsse des äußeren Milieus machen ihn zu einem Juden, Christen, Polytheisten, Atheisten etc. und verhindern seine „naturgemäße“ islamgerechte Ausformung. D.h.: Die islamische, von Gott verliehene Ursprungsnatur des Menschen wird nach der Geburt durch eine nichtislamische Umwelt verdorben. Folgerichtig gilt der durch negative äußere Einwirkungen zum Nicht-Muslim gewordene Mensch im Diskurs des orthodoxen Islam als sekundär verdorbener Mensch, dem im Sinne eines religiösen Anthropologismus und Naturalismus keine gleichen Rechte zugestanden werden können. Denn insofern jemand durch Umwelteinflüsse in den Zustand des Nicht-Muslim-Seins abgedrängt worden ist oder qua Apostasie in diesen Zustand überwechselt, begibt er sich in einen Zustand naturwidriger bzw. das ‚volle‘ (islamische) Menschsein unterschreitende Ungläubigkeit/Inferiorität.

Eine Gleichberechtigung von Muslimen und Nichtmuslimen ist damit grundsätzlich ausgeschlossen.

3. Die spekulativ-ideologische Synthese von menschlicher Natur und Islamisch-Sein ist eine wesentliche legitimatorische Voraussetzung für die Realisierung der islamischen Hauptzielsetzung, nämlich die Erringung der islamischen Weltherrschaft bzw. die Islamisierung der Menschheit. Hinzu kommt der islamische Anspruch auf das Wahrheitsmonopol. Nach Moses, Jesus und anderen Propheten sei Mohammed dadurch ausgezeichnet, dass er als letzter die endgültige, umfassende, einzig wahre und vollendete Offenbarung von Allah empfing. Daraus wird dann der herrschaftliche Geltungsanspruch des Islam als der einzig „wahren“ und überlegenen Religion abgeleitet und mit der religiösen Pflicht zur Islamisierung verbunden, also der weltweiten missionarischen Verbreitung/Durchsetzung des Islam. Der absolute Geltungsanspruch des Islam wird dabei ebenso prägnant wie unmissverständlich in Sure 3, 19 zum Ausdruck gebracht „Als (einzig wahre) Religion gilt bei Gott der Islam“.

Sehr klar kommt der islamische Herrschafts-, Überlegenheits- und Führungsanspruch auch in Sure 3, Vers 110 des Korans zum Ausdruck: „Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen erstand. Ihr heißet, was Rechtens ist, und ihr verbietet das Unrechte und glaubet an Allah“. Folgerichtig akzeptiert das islamische Glaubensbekenntnis auch keine interkulturelle Gleichberechtigung, sondern enthält die Forderung nach Unterordnung/Unterwerfung der Anders- und Nichtgläubigen.

4. Das zentrale Hindernis, das der islamischen Weltherrschaft entgegensteht und die absolute Geltungsmacht der islamischen Weltanschauung einschränkt, ist die im Grunde gotteslästerliche Existenz von „Ungläubigen“, die sog. Kafire. Als Feinde der islamischen Weltherrschaft und des umfassenden Islamisierungsstrebens sind die „Ungläubigen“ als Objekte der Bekämpfung, Tötung, Schmähung, Herabwürdigung etc. herausragendes und übergreifendes Kernthema der islamischen Quellen. („Der Koran widmet 64% seines Texts den Ungläubigen und die Trilogie als Ganzes -Koran, Hadithsammlung und Sira, H.K.- beschäftigt sich mit 60% ihres Gesamttexts mit den Ungläubigen.“ (Bill Warner: Scharia für Nicht-Muslime 2013, S. 8f.).) Dabei besitzen die Kafire im islamischen Diskurs den Status von Untermenschen. So heißt es in Sure 8, Vers 5: „Siehe, schlimmer als das Vieh sind bei Allah die Ungläubigen, die nicht glauben.“

Letztendlich zielt der Islam ab auf die totale Überwindung aller nichtmuslimischen Lebens- und Bewusstseinsformen, also auf die Ausmerzung alles Unislamischen: „Und kämpft gegen sie, bis … nur noch Gott verehrt wird (bzw. die Religion Allah gehört, H.K.)!“ (Sure 2, 193).

Die herrschaftliche Ungleichstellung von Muslimen/Rechtgläubigen und Ungläubigen/Kafiren bildet somit ein herausragendes Strukturprinzip des Islam und bringt eine dementsprechende dualistisch-hierarchische Ethik und Gesetzlichkeit hervor.

5. Ein wesentlicher Inhaltsaspekt des Islam ist sein dualistisch-widersprüchliches Konzept allahkonformer bzw. „rechtgläubiger“ Subjektivität. Dabei handelt es sich um die Verknüpfung der Selbstunterwerfung (unter den Willen Allahs) mit dem Streben nach Unterwerfung aller Nichtmuslime. So wird das Individuum einerseits als gehorsamspflichtiger, auf Hingabe fixierter Gottesknecht modelliert, dem eine selbstbestimmte Handlungsautonomie strikt abgesprochen wird. Andererseits fungiert die rituell bekundete und normativ praktizierte Gottesunterworfenheit zugleich als Legitimationsgrundlage für die Ausübung von Herrschaft gegenüber ‚den Anderen‘, den Ungläubigen (der Teil des Bestimmenden bzw. des Unterwerfens): Wer sich Gott pflichtgemäß unterwirft ist bestimmungs- und herrschaftsberechtigt gegenüber dem ‚pflichtuntreuen‘ Teil der Menschheit. Die spezifische Widersprüchlichkeit des islamischen Subjekts erscheint demnach als dialektische Verbindung von Gottesknechtschaft (Unterworfenheit) und Befehlsanspruch (Herrschaftsanmaßung): Der streng gläubige Muslim als unterworfener Unterwerfer.

6. Der Islam beinhaltet nicht nur ein umfassend normiertes, nach außen gerichtetes Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnis gegenüber unterschiedlichen Gruppen von „Ungläubigen“, sondern definiert auch ein System interner Herrschaftsbeziehungen und Hierarchien. Dabei bilden die Verse 104, 110 und 114 der Sure 3 des Korans die normative Grundlage für den Aufbau einer umfassenden islamischen Kontrollgesellschaft. Alle Gläubigen sind demnach an ihrem jeweiligen Platz in der Gesellschaft dazu angehalten, das Rechte zu gebieten und Falsches/Unrechtes/Sündhaftes in die Schranken zu weisen. Der Einzelne soll sich nicht nur selbst an die Gesetze Gottes halten, sondern er ist auch dazu aufgefordert, andere zur Einhaltung des islamischen Pflichtenkanons anzuhalten und sie entsprechend zu überwachen.

A. Eine wesentliche Achse des islamischen Herrschaftssystems bildet die koranisch vorgegebene patriarchalische Beherrschung und Ungleichstellung der Frau, die sich bis in das islamische Erb- und Zeugenschaftsrecht hinein fortsetzt, wo Frauen nur die Hälfte eines Mannes wert sind. Dabei wird die dogmatisch festgelegte Überlegenheit des Mannes, die ihm ein Züchtigungsrecht gegenüber der Ehefrau einräumt, auch von aktuellen islamischen Kommentatoren/Koranexegeten grundsätzlich bekräftigt6.

B. Der Überlegenheits- und Führungsanspruch der islamischen Gemeinschaft der Rechtgläubigen findet seinen Niederschlag nicht zuletzt auch in einem normativen Konzept der religiösen Zuchtauswahl, d.h. einem strikt reglementierten Heiratsverhalten im Interesse der möglichst „reinen“ Reproduktion der zur Herrschaft berufenen Umma. Da als Muslim gilt, wer von einem muslimischen Vater abstammt, dürfen muslimische Frauen keinen nichtmuslimischen Mann ehelichen. Muslimischen Männern ist es hingegen aufgrund ihrer patriarchalen Vormachtstellung erlaubt, Christinnen und Jüdinnen zu heiraten, allerdings keine Heidinnen (Gottlose). (Verstoß gegen das Grundrecht auf freie Partnerwahl)

C. Indem sich der Islam als allein rechtmäßige, von Allah definitiv gewollte und somit „naturgemäße“ Ursprungsreligion setzt, ist ihm auch das Prinzip der menschlichen Entscheidungsfreiheit in weltanschaulichen Belangen absolut wesensfremd. Die gottgewollte/„naturgemäße“ Weltherrschaft des Islam und der „besten Gemeinschaft, die unter den Menschen entstanden ist“, lässt weder Weltanschauungsfreiheit noch das Recht auf freien Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft zu. So darf das Individuum, das als Kind eines muslimischen Vaters in eine islamisch bestimmte Sozialordnung hineingeboren wird, seine Religion nicht selbstbestimmt auswählen. Nichtanerkennung bzw. Distanzierung vom Islam wird als Abfall vom ‚rechten Glauben‘ gewertet und massiv bestraft. So ist ein männlicher Apostat zum Tode zu verurteilen, wenn er nicht widerruft, eine weibliche Abtrünnige hingegen soll so lange gefangen gehalten werden, bis sie widerruft.

7. Zudem schließt der Islam homosexuelle Orientierungen als „krankhaft“ und „gesetzwidrig“ aus und droht auch hier mit massiven Strafen.

Generell gilt, dass der islamische Vorschriftenballast die natürliche Last des menschlichen Daseins - bedingt durch Bedürftigkeit, Krankheitsanfälligkeit, Verletzlichkeit, Sterblichkeit etc. - unnötig verstärkt und überdies durch den religiösen Reinheitsbegriff die Spontaneität zwischenmenschlicher Beziehungen nachhaltig untergräbt. „Es gibt keine grundsätzliche, keine unbedingte Akzeptanz des anderen Menschen als solchen, er ist nur im Zustande der (religiösen; H.K.) Reinheit in vollem Sinne ein Mensch“ (Akashe-Böhme 2006, S. 18).


Islamische Subjektprägung als importierte Traditionalität

Diese objektiv-islamischen Prinzipien lassen sich auch bei Durchsicht empirischer Studien im subjektiven Einstellungsbild einer großen Zahl von Muslimen nachweisen7. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im islamischen Herrschaftsbereich aufgrund des Fehlens weltanschaulicher Pluralität sowie der Negierung des Rechts auf Religionsfreiheit im Grunde keine optionale Alternative zum Muslim-Sein existiert. Daraus resultiert, dass sich auch Menschen, die sich von den islamischen Grundprinzipien und Normen abwenden, subjektiv immer noch als „Muslime“ bezeichnen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der islamische Sozialisationsprozess in inhaltlicher Hinsicht bestimmen als ‚Übertragung‘ grundlegender Aussagen, Prinzipien, Vorschriften, Normen etc. des Islam in das individuelle Bewusstsein und Verhalten der nachwachsenden Generationen.

In struktureller Hinsicht weist der islamische Sozialisationsprozess ein bestimmtes interaktives Beziehungsmuster zwischen den sozialisationsrelevanten Akteuren auf, das sich im Näheren als autoritär-patriarchalisches Verhältnis offenbart.


Wesentliche Merkmale der
islamisch-patriarchalischen Sozialisation (1)

Inhaltlicher Aspekt:

  • Die Setzung der islamischen Glaubensgemeinschaft als allen
    anderen Weltanschauungsgemeinschaften überlegene
    und herrschaftsberechtigte Gruppe
  • Negation der Weltanschauungs- und Meinungsfreiheit
    (Kein Recht auf Religionskritik)
  • Islamische Ursprungsnatur aller Menschen
  • Patriarchalisches Herrschaftsverhältnis der Männer über
    die Frauen
  • Kein Recht auf sanktionslosen Religionsaustritt bzw.
    Religionswechsel
  • Strafbewehrte Homophobie
  • Kein Recht auf freie Partnerwahl und Kultivierung eines
    vormodern-patriarchalischen Konzeptes der „Ehre“


Wesentliche Merkmale der
slamisch-patriarchalischen Sozialisation (2)

Struktureller Aspekt:

  • Prämodern-hierarchischer Autoritarismus und
    „Gehorsamsmoral“ als Leitkonzept
  • Patriarchalisch-hierarchische Familienstruktur
  • Rigide Geschlechterrollenerziehung
  • Antiwestliches Überlegenheits- und Abgrenzungsverhalten
  • Distanz gegenüber moderner (säkularer) Bildung
  • Die sich reproduzierende dysfunktionale Subjektzurichtung
    durch die islamische Sozialisation (Produktion muslimischer
    Identität) ist ursächlich für den insgesamt schlechten
    Integrationsstand muslimischer Zuwanderer


Gegenüber der sich spontan vollziehenden, herrschaftskulturell konformen Sozialisation in den islamischen Herkunftsländern8 erfolgt unter den Bedingungen der Einwanderung in ein nichtmuslimisches Land vielfach eine gezielte bzw. bewusst intendierte islamische Erziehung gegen die fremde, aber freiwillig als Aufenthaltsort gewählte westlich-moderne Kultur der Aufnahmegesellschaft. Das durch die Verinnerlichung islamischer Glaubensinhalte, Normen, Verhaltensregeln etc. vorgeprägte ‚Selbst‘ der erziehenden Migranten erhält unter diesen Bedingungen eine spezifische Verstärkung bzw. Radikalisierung einschließlich der Bildung von entsprechenden religiös-ideologischen „Identitätsgruppen“. Damit wirkt der Islam nicht nur normativ-inhaltlich, sondern auch psychologisch - im Sinne der Motivierung eines starken Abgrenzungsbedürfnisses - als Integrationsbarriere. Neben den patriarchalischen Familienverhältnissen fungieren auch Moscheen, Koranschulen und konservative sowie islamistische Verbände als Orte der defensiv-abwehrenden oder aktivistisch-kämpferischen Bewahrung einer religiös-autoritären Identität und regressiven Widerspruchsverarbeitung.

Generell gilt: Je ausgeprägter die inhaltliche Differenz zwischen der Kultur der Aufnahmegesellschaft und der verinnerlichten Kultur der Zuwanderer ist, desto größer sind auch die Integrationsprobleme. Konkret bedeutet das die Kollision zwischen spätkapitalistischer Anforderungslogik (mit ihren vielfältigen Individualisierungstendenzen, Erosion der Normalbiographie, neuen Rollenmustern und risikogesellschaftlichen Entwicklungen) einerseits und vormodern-religiösen Bewusstseins- und Verhaltensprofilen andererseits. Dabei wirkt dieser objektive Widerspruch zwischen traditionalistischer Identität und Anpassungszwang an spätmoderne normative Standards subjektiv als destabilisierender und potentiell pathogener (Stress-)Faktor, der vielfach auf regressive Weise in Form von Kontaktreduzierung mit der überfordernden Lebensumwelt (Selbstabsonderung) bei gleichzeitiger selbstentlastender Abwertung der „schwierigen“ Aufnahmegesellschaft verarbeitet wird. Dabei korrespondiert diese Form der regressiven Widerspruchsverarbeitung mit einer ultrakonservativen/„fundamentalistischen“ Ideologiebildung.

Im Gegensatz zu landläufigen Erwartungen, nach denen sich unter den Bedingungen der Einwanderung in ein westlich-modernes Land islamisch-traditionalistische Orientierungen von Generation zu Generation abschwächen würden, ist eher das Gegenteil festzustellen. So zeigten gemäß der vom Bundesinnenministerium herausgegebenen Studie „Muslime in Deutschland“ (2007) muslimische Jugendliche im Vergleich zu den Erwachsenen einen noch höheren Grad an religiöser Bindung. Im Vergleich zur muslimischen Allgemeinbevölkerung in Deutschland ist die Rate massiver Gewaltbefürworter unter jugendlichen Muslimen doppelt so hoch. Die Autoren kommen im Rahmen ihres konzeptionellen Ansatzes zu dem Ergebnis, dass die Gesamtmenge muslimischer Jugendlicher mit „demokratiedistanten“ Einstellungen und/oder religiös konnotierten Vorurteilen und/oder einer hohen Akzeptanz politisch/religiös motivierter Gewalt 29,2% der Probanden umfasst.

Insgesamt klassifiziert diese Studie die Befragten in folgende vier Gruppen: 1. „Fundamental orientierte“ Muslime: 40,6%. 2. „Orthodox-religiöse“ Muslime: 21,7%. 3. „Traditionell-konservative“ Muslime: 21,7%. 4. „Gering religiöse“ Muslime 18,8%.

Der Aussage „Der Islam ist die einzig wahre Religion“ stimmten 65,6% „völlig“ (53,4%) oder „eher“ (12,2%) zu. 45% sind der Meinung, „Nur der Islam ist in der Lage, die Probleme unserer Zeit zu lösen“ und 50,6% sind der Überzeugung „Auf lange Sicht wird sich der Islam in der ganzen Welt durchsetzen“. Der Aussage „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als Demokratie“ stimmen 46,7% zu. Laut der Studie „Integration in Österreich“ gaben 72% der befragten türkisch-muslimischen Zuwanderer an, „dass die Befolgung der Gebote ihrer Religion für sie wichtiger ist als die Demokratie“. 90% meinen, der Staat solle Fernsehen und Zeitungen kontrollieren, um Moral und Ordnung sicherzustellen.

In einer im Dezember 2013 vorgestellten Studie wurde nachgewiesen, dass „religiöser Fundamentalismus“9 unter den in Europa lebenden Muslimen deutlich weiter verbreitet ist als unter Christen. „Fast 60 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten; 75 Prozent meinen, dass nur eine Auslegung des Korans möglich ist, an die sich alle Muslime halten sollten; und 65 Prozent sagen, dass ihnen religiöse Regeln wichtiger sind als die Gesetze des Landes, in dem sie leben“ (Koopmans 2013, S. 22). Insgesamt ermittelt die Studie 44% konsistente Fundamentalisten unter den europäischen Muslimen, währenddessen nur ca. 4 Prozent der Christen als „konsistent fundamentalistisch“ zu bezeichnen sind. (In Österreich wurden gar 55 Prozent der befragten Muslime als „konsistente Fundamentalisten“ eingestuft. Dort stimmten „79 Prozent der Aussage zu, es gebe nur eine korrekte Auslegung des Islam, 73 Prozent hielten die islamischen Gebote für wichtiger als staatliche Gesetze und 65 Prozent eine Rückkehr zu den Wurzeln des Islam für erstrebenswert.“10)

Sind bei jungen Muslimen fundamentalistische Einstellungen in gleichem Maße verbreitet wie unter älteren, so sind sie hingegen bei jungen Christen deutlich seltener anzutreffen als bei älteren.

Zudem ist auch die Fremdgruppenfeindlichkeit unter Muslimen deutlich stärker ausgeprägt als unter Christen. So lehnen knapp 60 Prozent der Muslime Homosexuelle als Freunde ab, bei Christen sind es 13 Prozent (in Deutschland 10 Prozent). 45 Prozent der Muslime denken, dass man Juden nicht trauen kann. Bei den Christen denken 9 Prozent so (in Deutschland 11 Prozent).

Laut einer Studie des „Exzellenzclusters Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, die für TNS Emnid durchgeführt und am 16. Juni 2016 in Berlin vorgestellt wurde, „gab fast jeder Zweite (47 Prozent) an, dass die Befolgung der Gebote des Islams wichtiger sei als die Gesetze des Staates. 32 Prozent der Befragten sind der Meinung, Muslime sollten die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammeds anstreben. 50 Prozent stimmten der Aussage zu, dass es nur eine wahre Religion gebe. 73 Prozent bejahten, dass man Bücher und Filme, die religiöse Gefühle verletzen, gesetzlich verbieten solle. 36 Prozent sagten, dass nur der Islam in der Lage sei, aktuelle Probleme zu lösen. Jeder Fünfte äußerte, die Bedrohung des Islams durch die westliche Welt rechtfertige es, dass Muslime Gewalt anwenden. Zudem vertraten sieben Prozent die Ansicht, dass Gewalt gerechtfertigt sei, wenn es um die Durchsetzung des Islams gehe.“11

Auch im Vergleich zu einheimischen Deutschen, die hier nicht etwa als progressive Engel unterstellt werden, zeigt sich das deutlich höhere reaktionär-konservative Einstellungspotential bei türkischstämmigen Muslimen. So wurde in der „Ersten internationalen Studie zur Wertewelt der Deutschen, Deutsch-Türken und Türken“ zum Beispiel folgendes festgestellt:

„Ein Zusammenleben von Mann und Frau vor der Ehe lehnen 8% der Deutschen, aber 47% der TiD (Türken in Deutschland, H.K.) und 67 % der Türken ab. Beim vorehelichen Sex der Frau sind es 7% der Deutschen, 56% der TiD und 84% der Türken.“ 9% der Deutschen, aber 32% der TiD und 52% der Türken meinen, dass Kindererziehung Frauensache sei. „15% der Deutschen, 57% der TiD und 67% der Türken stimmen der Auffassung zu, dass berufstätige Frauen ihre Kinder vernachlässigen“. „5% der Deutschen, aber 48% der TiD und 68% der türken sind der Meinung, dass die Eltern bei der Wahl des Ehepartners ein Mitspracherecht haben sollten.“ „Einen Schwangerschaftsabbruch beurteilen 54% der Deutschen, aber 77% der TiD und 92% der Türken als schlimm. Eine homosexuelle Beziehung von Männern lehnen 29% der Deutschen, aber 65% der TiD und 75% der Türken ab.“ „Eine deutsch-türkische Heirat innerhalb der Familie finden nur 14% der Deutschen und 19% der TiD eher unangenehm, aber 33% der Türken. Die religiöse Toleranz findet insgesamt ihr Ende, wenn es um ein mögliches Einheiraten in die eigene Familie geht: 28% der Deutschen fänden es unangenehm, wenn ein gläubiger Moslem in ihre Familie einheiraten würde. Dagegen fänden es 49% der TiD und 63% der Türken unangenehm, einen gläubigen Christen in die Familie aufnehmen zu müssen. Noch schlimmer wäre ein gläubiger Jude (Ablehnung bei 48% der TiD und 72% der Türken), der Gipfel wäre jedoch ein bekennender Atheist (Ablehnung von 69% der TiD und 87% der Türken).“

Von den befragten Deutschen sind nur 37% streng oder einigermaßen religiös, von den TiD 64% und von den Türken 75%. Nur 26% der Deutschen praktizieren ihre Religion auch, aber 48% der TiD und 65% der Türken.“ An die Hölle glauben 20% der Deutschen, 79% der TiD und 93% Türken. An die Wiedergeburt glauben 29% Deutsche, 59% TiD und 78% Türken. An die göttliche Schöpfung glauben 37% Deutsche, 88% der TiD und 98% Türken. An Gott glauben 48% Deutsche, 92% der TiD und 98% Türken. An die Evolutionslehre nach Darwin glauben 61% Deutsche, 27% TiD und 22% Türken.12

Auch im Hinblick auf die Sexualmoral weisen die muslimischen Jugendlichen in ihrer überwiegenden Mehrheit ein Einstellungsprofil auf, das sogar noch hinter das der postfaschistischen Elterngeneration der 68er Bewegung zurückfällt, gegen die sich die antiautoritären Proteste richteten. Wie der Erziehungswissenschaftler von Wensierski in einem Interview mit der TAZ am 21.12.2008 feststellte, ist die Bindungskraft traditioneller Familienstrukturen unter muslimischen Zuwanderern nach wie vor ungebrochen. Die Sexualmoral der jungen Muslime entspräche in etwa der deutschen Sexualmoral der 1950er Jahre. „Ein großer Teil unserer Interviewpartner hat eine ausgesprochen asketische und verbotsorientierte Sexualmoral, also: kein Sex vor- und außerhalb der Ehe, keine sexuelle Erfahrungen im Jugendalter. Das heißt auch: Die Jugendlichen werden zu Hause nicht aufgeklärt, dort wird über Sexualität nicht gesprochen. Damit einher geht eine starke Sexualisierung insbesondere des weiblichen Körpers, der wiederum tabuisiert wird.“ Zwar gäbe es eine Doppelmoral bei jungen muslimischen Männern, die ihre eigenen sexuellen Erfahrungen mit nichtmuslimischen Frauen außerhalb der eigenen Community mache. „Aber auch bei ihnen dürfen die Eltern in den meisten Fällen von den Beziehungen nichts wissen, oder zumindest wird der Schein gewahrt. Interessanterweise ändern aber auch die eigenen sexuellen Erfahrungen nichts an den Werten dieser jungen Männer. Sie sagen nicht: Unsere Sexualmoral ist überholt. Im Gegenteil. Insbesondere am Ende der Jugendphase werden diese Erfahrungen eher als Fehltritte gewertet. Allerdings wiegen diese Fehltritte bei Frauen weit schwerer, weil die Jungfräulichkeit durch das Jungfernhäutchen überprüfbar ist und durch die Ehre auch noch ideologisch überhöht wird.“



Fazit

In den klassischen „Studien zum autoritären Charakter“ stand das potentiell faschistische Individuum im Mittelpunkt des Interesses, „ein Individuum, dessen Struktur es besonders empfänglich für antidemokratische Propaganda macht“ (Adorno 1973, S. 1). Im Rahmen dieser theoretischen Konzeption „ist der Charakter eine mehr oder minder beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend das konsistente Verhalten - ob verbal oder physisch - bestimmen“ (ebenda S. 6). Dabei entspringen diese inneren „Kräfte“ nicht etwa einer endogenen Instanz, sondern sind das Resultat eines spezifisch geprägten sozialisatorischen Vermittlungsprozesses. Um nun aber die sozialisatorische Produktion des autoritären Charakters langfristig wirkungsvoll einzudämmen, sind deshalb die zugrunde liegenden Formen und Inhalte des individuellen Vergesellschaftungsprozesses radikal zu verändern.

Im Zeichen der Globalisierung, des intensiven wechselseitigen Transfers und Durchmischungsverhältnisses von (Finanz-)Kapital, Waren, Ideen, Informationen, Lebensformen und Mentalitäten gilt es, die west-, euro- und germanozentristische Perspektive zu überwinden bzw. zu erweitern und (theoretisch und politisch) anzuerkennen, dass es - in Abhängigkeit von regional diversifizierten Formen vormoderner Herrschaftskulturen und deren Leitideologien - unterschiedliche kulturspezifische Formen des autoritären Charakters gibt. Wenn es auch gelungen sein mag, die eurospezifische (faschistische) Variante des autoritären Charakters im Anschluss an die militärische Zerschlagung des Hitlerfaschismus nachhaltig zu bändigen und zu marginalisieren, so bleibt bislang doch noch weitgehend unverstanden, dass sich in „Euro-Land“ in islamisch-herrschaftskulturell geprägter Gestalt längst eine ‚neue‘ Form des „autoritären Charakters“ in beschriebener Gestalt und mit beträchtlichem Expansions- und Destruktionspotential festgesetzt hat.

Zwar sind europäischer Rechtskonservatismus und daraus hervorgehender Faschismus sowie orthodoxer Islam und daraus hervorgehender Islamismus nicht gleichzusetzen. Dennoch weisen sie trotz ihrer verschiedenartigen kulturhistorischen und gesellschaftsstrukturellen Rahmenbedingungen eine deutliche inhaltliche und strukturelle Wesensverwandtschaft auf13. Man betrachte nur das Segment „Autoritäre Aggression“ aus der F-Skala der empirischen Untersuchung zum autoritären Charakter (Vorgaben zur Einstellungsmessung) und vergegenwärtige sich in Bezug darauf das dominante Einstellungsbild nicht nur radikaler, sondern auch orthodoxer Muslime:

„6. Es ist nur natürlich und rechtens, daß Frauen in gewissen Dingen Beschränkung auferlegt wird, in denen Männer mehr Freiheit haben.

23. Wirklich verächtlich ist, wer seinen Eltern nicht unaufhörliche Liebe, Dankbarkeit und Achtung entgegenbringt.

31. Homosexualität ist eine besonders verderbte Art von Vergehen und sollte streng bestraft werden.

47. Wer unsere Ehre kränkt, sollte nicht ungestraft bleiben.

75. Sittlichkeitsverbrechen wie Vergewaltigung und Notzucht an Kindern verdienen mehr als bloße Gefängnisstrafe; solche Verbrecher sollten öffentlich ausgepeitscht werden“ (Adorno 1973, S. 50).

Zum einen stellt der Migrationsimport einer großen Zahl von Menschen mit einem islamisch- autoritären Charakter eine beträchtliche Ausweitung des Potentials fortschrittsresistenter (rechtsreaktionärer) Akteure dar. Dieser Tatbestand ist zumindest von einem herrschaftskritisch-emanzipatorischen (genuin ‚linkem‘) Standpunkt aus betrachtet als äußerst negativer Sachverhalt zu verzeichnen. Zum anderen ist aber auch festzustellen, dass die traditionalistisch-islamische Sozialisation zahlreicher Zuwanderer, darunter die Verinnerlichung orthodox-patriarchalischer Normen und ethnizistisch-nationalistischer Orientierungen, diese daran hindert, a) den Anforderungen einer modernen spätkapitalistischen Risikogesellschaft subjektiv gerecht zu werden und b) sich in eine säkular-demokratische Gesellschafts- und Werteordnung zu integrieren14.Dementsprechend fehlen ihnen in zahlreichen Fällen wesentliche Basiskompetenzen wie kulturelle Grundqualifikationen (Sprache, Lesefähigkeit, Textverständnis, kognitive Flexibilität), gewaltfreie Konfliktaustragung, Frustrationstoleranz, Selbstkritikfähigkeit, eigenständige Meinungsbildung, Empathie, Wissen um säkulare Werte und moderne Grundrechte, Akzeptanz zwischengeschlechtlicher Gleichberechtigung etc. Hinter aggressiv-dominantem Auftreten bei muslimischen Männern verbirgt sich zudem oftmals Unsicherheit, Unselbständigkeit und eine ausgeprägte autoritätshörige Ich-Schwäche. Dieses sozialisatorisch generierte und subjektiv sedimentierte Ensemble an Defiziten verhindert in vielen Fällen sowohl die berufliche als auch die soziokulturelle Integration.



Literatur:

Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1973.

Akashe-Böhme, Farideh: Sexualität und Körperpraxis im Islam. Frankfurt am Main 2006.

Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen. Autoren: Katrin Brettfeld und Peter Wetzels unter Mitarbeit von Ramzan Inci, Sarah Dürr, Jan Kolberg, Malte Kröger, Michael Wehsack, Tobias Block und Bora Üstünel. Hamburg, Juli 2007.

Cook, Michael: Der Koran. Eine kleine Einführung. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Jendis. Mit 21 Abbildungen und 1 Karte. 4. Aufl. Stuttgart 2009.

D’Holbach, Paul Thiry: Heilige Seuche & Gesunder Menschenverstand. Hrsg. v. Heiner Jestrabek. Reutlingen 2016.

Du Marsais, César Chesneau; Baron d’ Holbach, Paul-Henri Dietrich: Essay über die Vorurteile oder Vom Einfluß der Meinungen auf die Sitten und das Glück der Menschen, eine Schrift, die die Verteidigung der Philosophie enthält. Leipzig 1972.

Koopmans, Ruud: Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit. Muslime und Christen im europäischen Vergleich. In: WZB Mitteilungen, Heft 142. Berlin 2013. S. 21-25.

Der Koran (herausgegeben von Kurt Rudolph und Ernst Werner), Leipzig 1984. 6. Auflage.

Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret. 10. Auflage. Stuttgart 2007.

Kossok, Manfred: Revolutionen der Weltgeschichte. Von den Hussiten bis zur Pariser Commune. Lizenzausgabe für die W. Kohlhammer GmbH 1989 Stuttgart Berlin Köln Mainz. Verlagsort: Stuttgart. Leipzig 1989.

Krauss, Hartmut: Faschismus und Fundamentalismus. Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen ‚prämoderner Herrschaftskultur und kapitalistischer ‚Moderne‘. Osnabrück 2003.

Krauss, Hartmut (Herausgeber): Das Testament des Abbé Meslier. Die Grundschrift der modernen Religionskritik. 2. Auflage. Osnabrück 2005.

Krauss, Hartmut: Islam, Islamismus, muslimische Gegengesellschaft. Eine kritische Bestandsaufnahme. Osnabrück 2008.

Krauss, Hartmut; Vogelpohl, Karin: Spätkapitalistische Gesellschaft und orthodoxer Islam. Zur Realität eines Desintegrationsverhältnisses jenseits von Verdrängung, Verschleierung und Bewältigungsromantik. In: Krauss, Hartmut (Hrsg.): Feindbild Islamkritik. Wenn die Grenzen zur Verzerrung und Diffamierung überschritten werden. Osnabrück 2010, S. 217-262.

Liljeberg Research International: Presseinformation. Erste Internationale Vergleichsstudie zur Wertewelt der Deutschen, Deutsch-Türken und Türken. 19. November 2009. http://www.infogmbh.de/wertewelten/Wertewelten-2009-Pressemitteilung.pdf

Liljeberg Research International: Deutsch-türkische Lebens- und Wertewelten 2012. http://liebbu.files.wordpress.com/2012/08/wertewelten-2012-pressemitteilung.pdf

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW 23. Frankfurt am Main 1976.

Warner, Bill: Scharia für Nicht-Muslime, 2013. http://de.europenews.dk/PDF/-Bill-Warner-Scharia-fuer-Nicht-Muslime-Kapitel-1-Einfuehrung-77345.html

1 Leicht überarbeiteter und ergänzter Text eines Vortrags, der am 24.11.2016 an der TU Chemnitz gehalten wurde.

2 Vgl. hierzu exemplarisch Manfred Kossoks Opus Magnum: Revolutionen der Weltgeschichte. Von den Hussiten bis zur Pariser Commune. Leipzig 1989.

3 Der Versuch, vormoderne (ständisch-absolutistische) Herrschaftsverhältnisse unter den Bedingungen der kapitalistisch dominierten Moderne mit modernen (technologischen, ökonomischen, bürokratischen) Mitteln wiederherzustellen, endet im faschistischen Totalitarismus. Parallel dazu führt auch der Versuch, den Sozialismus in einem durch und durch vormodern geprägten Land mit Hilfe imitierender Anwendung industriekapitalistischer Methoden im Zeitrafferverfahren einzuführen, zur Hervorbringung des stalinistischen Totalitarismus. Heute ist der islamistische Totalitarismus bestrebt, eine sittenterroristische Theokratie unter Einsatz technisch-ökonomischer Modernität zu errichten. Gemeinsam ist allen drei Formen des Totalitarismus die militante Negation der kulturellen Moderne. Vgl. Krauss 2003.

5 Als historischer Tatbestand ist festzuhalten, dass der konservativ-traditionalistische Gesetzes-Islam und sein konzeptioneller Träger, die Fiqh-Orthodoxie, gegenüber den Varianten des heterodoxen Islam die Oberhand behielten: So wurde der islamische Rationalismus systematisch zurückgedrängt und zur Häresie erklärt sowie im Einklang damit die ra‘y, die persönliche Ratio, aus dem System der Rechtsfindung und seinen Grundlagen ausgeschlossen. Verbindliche Richtlinie wurde somit al-Marwadis (974-1058) Grundsatz „auf der Basis des göttlichen Gesetzes, nicht der Vernunft“ sowie al-Ghazalis (1058-1111) Verwerfung der Philosophie als eigenem Weg zur Wahrheit.

6 Keiner von ihnen stellt das Grundprinzip in Frage. Vgl. Cook 2009, S. 58.

7 http://www.gam-online.de/text-Islam%20im%20Kopf.html

8 Eine strukturanalytische Skizze zur muslimischen Sozialisation findet sich in Krauss 2008, S. 372ff. sowie Krauss/Vogelpohl 2010, S. 217ff.

9 In Anlehnung an die Fundamentalismus-Definition von Altemeyer und Hunsberger wird „Fundamentalismus“ anhand von drei Einstellungen erfasst:

1. Die Gläubigen sollen zu den ewigen und unveränderlichen Regeln zurückkehren, wie sie in der Vergangenheit festgelegt wurden. 2. Diese Regeln lassen nur eine absolut gültige Interpretation zu. 3. Religiöse Regeln haben Vorrang gegenüber weltlichen Gesetzen. Vgl. Koopmans 2013, S. 21.

10 Online-Pressemitteilung von religion.ORF.at/APA/AFP. Publiziert am 11.12.2013.

11 http://www.idea.de/gesellschaft/detail/islamischer-fundamentalismus-unter-tuerkeistaemmigen-weit-verbreitet-97223.html

12 Presseinformation der INFO GmbH Liljeberg Research International.

13 Vgl. hierzu ausführlich Krauss 2003.

14 Die unbestrittene Kritikwürdigkeit der spätkapitalistischen Systemlogik kann nicht ernsthaft als Alibi für die Verteidigung der reaktionären Verfasstheit des orthodoxen Islam und seiner „autoritären“ Akteure, die einen eigenen kritischen Gegenstandbereich bilden, herangezogen werden.


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